Gammertingen

Von der Förderschule auf den ersten Arbeitsmarkt: Alicia Maichle und der Mariaberger Textilservice

08.04.2024

von Pressemitteilung

Von der Förderschule auf den ersten Arbeitsmarkt: Alicia Maichle und der Mariaberger Textilservice

© Alina Veit

Alicia Maichle ist seit ihrem Abschluss der KBF-Schule Inklusionsmitarbeiterin im Mariaberger Textilservice.

„Gut gelaunt sollte man sein! Arbeiten und anpacken sollte man können.“ Ein strahlendes Beispiel für gelungene Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt präsentiert sich beim Mariaberger Textilservice. Alicia Maichle arbeitet seit ihrem Abschluss an der Förderschule im bislang einzigen Inklusionsunternehmen im Landkreis Sigmaringen. Eine Pressmitteilung gibt Einblicke in Alicias Arbeitsalltag mitsamt aller Höhen und Tiefen sowie die Situation von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt.

Angefangen hat die heute 22-jährige Alicia Maichle mit einem Schülerpraktikum im November 2021, als sie noch die Ringelbachschule des KBF in Reutlingen besuchte. „Da haben wir gleich gemerkt, dass es ihr bei uns total gut gefällt und auch wir waren von Alicia begeistert“, erzählt Corinna Kanz, Leiterin der „Mariaberger Textilservice gGmbH“. Es folgte ein Langzeitpraktikum ab Januar 2022 und ab September desselben Jahres die Einstellung in der Wäscherei.

Direkt auf den ersten Arbeitsmarkt

Während ihre ehemaligen Klassenkameraden inzwischen im Kindergarten oder in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen arbeiten, wagte Alicia Maichle damit den Schritt auf den ersten Arbeitsmarkt. „Es ist vielen nicht bekannt, dass das direkt nach der Sonderpädagogischen Schule eine Option sein kann“, erklärt Corinna Kanz. „In einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wäre Alicia voll unterfordert.“ Alicia Maichle selbst ist stolz darauf, ihren Platz im Team gefunden zu haben: „Hier ist das Klima gut und ich komme gut mit den Kollegen klar.“

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Der Mariaberger Textilservice ist eines von 92 Inklusionsunternehmen in Baden-Württemberg (laut Analyse des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales 2022). Das Team des Textilservices umfasst 24 Mitarbeitende, wovon acht Inklusionsbeschäftige sind. Alle werden nach demselben Tarif bezahlt, erhalten dieselben Sonderzahlungen und Urlaubstage. Die Beschäftigten mit Behinderung dort gehen einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach und zahlen alle Versicherungen und Steuern wie alle anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch.

Individuelle Bedürfnisse berücksichtigt

„Gleichzeitig stellen wir uns bei allen Mitarbeitenden auf deren individuellen Bedürfnisse ein – zum Beispiel was Arbeitszeiten oder -dauer angeht“, erklärt Geschäftsführer Rüdiger Böhm. Gleichzeitig sei die Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht für alle Menschen etwas, wenn soziale Problematiken oder kognitive Einschränkungen dagegensprechen.

Von der Förderschule auf den ersten Arbeitsmarkt: Alicia Maichle und der Mariaberger Textilservice

© Jörg Jäger

Im einzigen Inklusionsunternehmen im Landkreis Sigmaringen arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen im selben Tarif.

Der Integrationsfachdienst des Integrationsamts Stuttgart berät und begleitet sowohl die Arbeitnehmenden als auch den Arbeitgeber von der Eingliederung einer Person von der Förderschule bis zum Arbeitsvertrag und auch darüber hinaus. Im Textilservice Mariaberg gibt es zweimal im Monat eine Sprechstunde für alle Anliegen beider Seiten: „Das ist uns wichtig: Wir wollen nicht warten, bis es anbrennt“, so Rüdiger Böhm.

Bügelstation ist Lieblingsaufgabe

Alicia Maichle arbeitet an der Bügelpuppe für Hemden, der Bügelpresse, an der Handtuchfaltmaschine und am Hosentopper. Da spannt man die Hose ein und sie wird mit Dampf aufgeplustert und dadurch geglättet. Ihre Lieblingsaufgabe ist die Bügelstation in guter Zusammenarbeit mit ihrer Kollegin Silvia Weber. Alicia Maichle hat kein Kurzzeitgedächtnis, aber sie hat gelernt, sich zu organisieren. „Am Anfang mussten ihr die Tätigkeiten jeden Morgen neu erklärt werden. Wenn sie sich nach zwei bis drei Wochen in eine Aufgabe richtig eingelernt hat, vergisst sie diese aber auch nie wieder“, erklärt Corinna Kanz.

Schwierig sind etwa kurzfristige Änderungen im Dienstplan: Dann nimmt Alicia Maichle einen Zettel mit der Info mit nachhause und steckt ihn an ihre Pinnwand. Sie behilft sich mit ihrem Smartphone, auf dem sie sich Termine und Notizen einträgt. Ihre Smartwatch erinnert sie daran, Pause zu machen.

Selbstständigkeit ist Alicia Maichle und ihrer gesamten Familie sehr wichtig. Daher kommt die 22-Jährige ab März jeden Tag aus Melchingen mit dem E-Bike zur Arbeit: „Bei jedem Wetter, außer bei Schnee und Glätte.“ Dafür braucht sie eine knappe halbe Stunde, wofür sie eifrig trainiert hat: Zusammen mit ihrer Mutter ist sie den Radweg in den Sommerferien vor der Einstellung in 2022 mehrfach abgefahren, bis sie ihn sich merken konnte.

Selbstständigkeit wird großgeschrieben

„Ich bin ein Sparfuchs, ein richtiger Schwabe“, deshalb bringt sich die junge Frau ihr Vesper auch immer selbst mit und spart gerade auf den Führerschein. Den möchte sie für ein 40-km/h-Mopedauto machen: „Für die kalten Wintermonate, wenn’s mit dem Fahrrad nicht geht.“

Corinna Kanz stellt ihrer Mitarbeiterin ein sehr gutes Zeugnis aus: „Alicia hat so ein frohes, lebhaftes Gemüt, das lockert das Ganze ein bisschen auf. Sie hat eine gute Arbeitsmoral. Das erleben wir selten, dass jemand aus dem Schülerpraktikum und tatsächlich schon acht Stunden stehen kann, sich nie beschwert. Sie hatte da ein sehr gutes Durchhaltevermögen. Und sie ist natürlich sehr ordentlich, was bei uns sehr wichtig ist.“

Die Berufsberatung der Agentur für Arbeit muss bei Menschen mit Schwerbehinderungen klären, ob die Person auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein kann oder nicht. Ein typischer Weg für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen wäre der Besuch von Sonderpädagogischen Beratungszentren (SBBZ) oder einer anderen Förderschule, dann die berufsvorbereitende Orientierung im Berufsbildungsbereich für 2 Jahre und 3 Monate und schließlich die Beschäftigung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung.

Mindestens ein Inklusionsunternehmen pro Kreis

Inklusionsunternehmen sollen die Lücke zum Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt schließen, und jeder Landkreis sollte über mindestens ein Inklusionsunternehmen verfügen (auf iubw.de gibt es eine Übersicht über die Inklusionsunternehmen in Baden-Württemberg mit Landkarte). Arbeitgeber erhalten daher für den Aufbau eines Inklusionsunternehmens investive Zuschüsse sowie Arbeitgeber institutionelle personenbezogene Zuschüsse für den erhöhten Personalaufwand in der sozialpädagogischen Betreuung von Mitarbeitenden mit Behinderung.

Arbeitgeber werden unterstützt

Außerdem erhält jeder Arbeitgeber den „Minderleistungsausgleich“: Kann eine auf dem ersten Arbeitsmarkt angestellte Person mit Behinderung in derselben Zeit nur 30 Prozent der Arbeit einer Person ohne Behinderung bei einer vergleichbaren Tätigkeit erbringen, gemessen zum Beispiel in Stückzahlen am Hosentopper, zahlt der Gesetzgeber dem Unternehmen die Mehrzeit.

Über 400 Tonnen Wäsche gehen im Jahr durch die Trommeln und Bügelstationen des Mariaberger Textilservices. Rund 20 Prozent der Aufträge stammen aus der Hotellerie, aus Gaststätten und Betrieben der Umgebung, die unter anderem ihre Berufskleidung dort reinigen lassen.

Hauptkunde ist das diakonische Mutterunternehmen der Wäscherei, Mariaberg, mit seinen Wohnangeboten der Eingliederungs- und Jugendhilfe sowie eigener Gastronomie und Berufskleidung. Der Aufbau des Betriebs wurde 2008 durch den KVJS und die Aktion Mensch gefördert. Durch die Gemeinnützigkeit ist das Unternehmen auch berechtigt, Spenden anzunehmen.

Als ein „Wechselspiel sozialer Anerkennung“ beschreibt Geschäftsführer Rüdiger Böhm, auch Vorstand Mariabergs, die Bedeutung des Betriebs für seine Inklusionsbeschäftigten: „In unserer Gesellschaft definiert jeder Mensch sein Selbstwertgefühl mitunter auch über Arbeit: Das, was er tut, was er tun kann, was er leistet. Egal, ob im ersten oder zweiten Arbeitsmarkt.“

„Eine granatenmäßige Motivation“

Durch die Einstellung im Inklusionsbetrieb steht Alicia Maichle nun auf eigenen Beinen und steuere über Rentenbeiträge und Beiträge zur Arbeitslosen- oder Krankenversicherung zum Sozialsystem bei. Sie zahlt ihre eigenen Einkäufe, ihr Fahrrad oder ihren Führerschein. „Frau Maichle hat eine granatenmäßige Motivation, einen ungeheuren Ansporn, und auch das Glück, den Hintergrund zu haben, um diese umsetzen zu können“, meint Rüdiger Böhm.

Motor der sozialen Integration

Der Mariaberger Textilservice ist nicht nur ein Ort der Beschäftigung, sondern auch ein Motor der sozialen Integration. Die fabriziert die junge Mitarbeiterin aber auch in ihrer Freizeit: Alicia Maichle fotografiert gerne und engagiert sich im Fasnetsverein beim Narrhalla Klein-Berlin 1950 Melchingen: „Ich bin eine Hex, seit diesem Jahr!“ Warum sie das gerne macht? „Wir sind aber nette Burghexen und verteilen Süßigkeiten und so. Es sind alle dabei, mit denen man gut auskommt. Die ganze Familie ist integriert.“

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