Balingen

Teurer Ärger aus dem Untergrund: Warum Frommerner in die Röhre schauen (sollten)

02.02.2024

Von Nicole Leukhardt

Teurer Ärger aus dem Untergrund: Warum Frommerner in die Röhre schauen (sollten)

© Nicole Leukhardt

Wie gut wurde das Kanalsystem in Frommern gewartet? Die Anwohner kritisieren, dass massive Schäden erst jüngst aufgefallen sind.

Das Frommerner Kanalsystem sei unterdimensioniert, baulich mangelhaft und faktisch am Ende – dieses düstere Fazit einer Untersuchung hatte ein Ingenieurbüro vergangene Woche in der Ortschaftsratssitzung gezogen. Nun sollen vor allem auch Anlieger zur Kasse gebeten werden, denn offenbar sind schadhafte und unsachgemäß verbaute Hausanschlüsse ein großer Teil des Problems. „Wieso ist das so lange keinem aufgefallen?“, fragen die Anwohner. Eine Spurensuche.

28 Prozent des begutachteten Kanalsystems weise sehr starke Mängel auf, 37 Prozent starke Mängel. „Das bedeutet, Dreiviertel des Netzes ist sofort zu machen“, hatte Immo Gerber vom Ingenieurbüro itr in der Sitzung in Frommern mitgeteilt. Die Schäden reichen von Verschiebungen und Versinterungen bis hin zu kompletten Rohrbrüchen. Defekte oder unsachgemäß verbaute Hausanschlüsse führen die Rangliste bei den Schadensbildern mit deutlichem Vorsprung an. „80 Prozent der Schäden hat der Anschlussnehmer verursacht“, formulierte Immo Gerber. Auf der Karte mit den schadhaften Stellen ist an vielen Stellen „Gefahr im Verzug, massiver Rohrbruch“ zu lesen.

Auf die Anlieger kommen Kosten zu

Eine Nachricht, die zahlreiche Frommerner schockierte, bedeutet es doch, dass sie bei der fraglos notwendigen Sanierung zur Kasse gebeten werden. In der Balinger Abwassersatzung ist festgelegt, dass der Anschlussnehmer für seinen Kanal bis zum Sammler in der Straßenmitte zuständig ist. „Die Schäden durch private Anschlüsse entstehen durch angeschlossene Drainagen, welche in manchen Fällen eben Schicht- und/oder Quellwasser dort einleiten. Dieses sogenannte Fremdwasser und dessen Einleitung ist streng genommen verboten“, erklärt Immo Gerber dazu. Verhindert werden könne dies nur dadurch, dass jenes Fremdwasser nicht mehr in den Kanal eingeleitet, sondern ortsnah versickert oder anderweitig bewirtschaftet werde.

Doch unter den Anliegern ist der Frust groß. „Die Häuser sind vor Jahrzehnten gebaut worden mit diesen Anschlüssen, wie sie heute vorgefunden werden. Es gab für jedes eine Bauabnahme durch die Stadt“, so ihr Argument.

Warum blieben Schäden so lange unentdeckt?

Und noch eine Frage brennt den Frommernern auf den Nägeln: Wie kann das Schadensbild so gravierend sein, wenn die Kanäle regelmäßig gewartet werden? Tatsächlich haben Städte die Pflicht, ihre Untergrund-Infrastruktur regelmäßig zu untersuchen. „Nach unserer Einschätzung gibt es eine Pflicht nach der Eigenkontrollverordnung, den Zustand öffentlicher Kanäle zu erheben. Das Ziel ist dabei der Boden- und Gewässerschutz“, bestätigt Christopher Heck, Sprecher des Gemeindetags Baden-Württemberg. „In der Praxis erfolgt die Erhebung üblicherweise mittels Befahrung der Kanäle. Das Ergebnis wird dokumentiert und dient der Information beispielsweise über Schadstellen“, erläutert er.

Teurer Ärger aus dem Untergrund: Warum Frommerner in die Röhre schauen (sollten)

© Privat

Wo es rot und orange ist, steht es schlecht um die Kanalisation.

In der Eigenkontrollverordnung heißt es außerdem, dass Kanalisationen „regelmäßig daraufhin zu überprüfen sind, ob sie den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen. Die Überprüfungen und erforderlichen Sanierungen sind nach wasserwirtschaftlichen Dringlichkeiten durchzuführen“. Auch zum erforderlichen Turnus gibt es Richtlinien. „Beispielsweise hat die Überprüfung von Misch- und Schmutzwasserkanälen, die saniert oder frei von Schäden sind und nicht in Wasserschutzgebieten liegen, alle 15 Jahre zu erfolgen.“ Für nicht-sanierte Kanäle beträgt die Frist sogar nur 10 Jahre. Auch Immo Gerber betont, dass die Kanäle nach dem aktuellen Stand der Technik alle 10 Jahre optisch begutachtet werden müssten.

Letzte Kontrolle war 2003

Wurde die Kanalisation in Frommern regelmäßig gewartet? Im Landesrecht heißt es in Sachen Wartung: „Die Ergebnisse der Eigenkontrolle sowie Störungen und besondere Vorkommnisse sind (...) zu dokumentieren (Betriebsdokumentation). Die Betriebsdokumentation (...) ist der Wasserbehörde auf Verlangen vorzulegen.“

Wir haben bei der Balinger Verwaltung bereits am Dienstag nachgefragt, wann die jüngste Untersuchung stattgefunden hat und um deren Dokumentation gebeten. Am Freitag schließlich schreibt Rathaussprecher Dr. Dennis Schmidt: „In der Regel werden die öffentlichen Kanäle alle 15 Jahre überprüft.“ Er räumt auch ein: „Das Gebiet in Frommern wurde nach unserem Verzeichnis zuletzt 2003 überprüft. Darauf aufbauend wurden Kanalsanierungen in den Folgejahren überwiegend in geschlossener Bauweise durchgeführt.“

Berichte sind unerreichbar

Was bei der also bereits 21 Jahre zurückliegenden, jüngsten Untersuchung jedoch festgestellt wurde, bleibt weiterhin im Dunkeln. „Die Berichte wurden im Vorfeld der jetzigen Untersuchung nicht geprüft, da eine umfassende aktuelle Bestandsaufnahme intendiert war“, erklärt Schmidt. Auf die Bitte um Zusendung der Dokumentation entgegnet Schmidt: „Diese Berichte sind in der Altregistratur vorhanden, liegen uns gegenwärtig jedoch nicht vor.“

Eben jene Frage, wie es zu einem gravierenden Schadensbild wie in Frommern kommen kann und warum die heute festgestellten Missstände nicht bereits bei früheren Kontrollen aufgefallen sind, hatten wir neben einigen anderen Fragen im Vorfeld auch Immo Gerber vom beauftragten Ingenieurbüro gestellt. Der Fachmann ließ sie unbeantwortet. Wenig später ist aus dem Balinger Tiefbauamt per E-Mail zu erfahren, man habe das Ingenieurbüro angewiesen, keine weiteren Pressefragen mehr zu beantworten.

Auch Hausbesitzer müssen aktiv werden

Ob 10 oder 15 Jahre – die Frist gilt in erster Linie für Kommunen und ist bindend, doch auch für Hausbesitzer scheint sie eine gute Richtschnur. „Die in der Eigenkontrollverordnung des Landes geregelten 10 Jahre sind für Kontrollen sicherlich ein guter Wert“, erklärt Immo Gerber im ZAK-Gespräch. Für Hauseigentümer bedeutet das, dass alle 10 oder 15 Jahre eine Fachfirma die Abwasserleitung begutachten sollte.

„Die Überprüfung ist, ähnlich wie beim öffentlichen Hauptkanal, durch eine Befahrung mittels Kamera möglich. Bei Hausanschlüssen erfolgt diese Befahrung in der Regel aus dem privaten Hauskontrollschacht oder, wenn dieser nicht vorhanden ist, aus einer Revisionsöffnung aus dem Keller heraus“, erklärt auch der Pressesprecher der Stadt Balingen. „Sollte beides nicht möglich sein, kann der Hausanschluss auch aus dem öffentlichen Hauptkanal heraus befahren werden, was jedoch deutlich mehr Aufwand bedeutet“, fügt er an. Eine Pflicht zur Kontrolle, wie für die Städte, besteht dazu jedoch nicht.

Kanäle sind auch in anderen Städten Baustellen

Ein Blick über die Stadtgrenzen hinaus zeigt, dass Balingen in Sachen Kanalsanierungsbedarf keine Ausnahme ist. Das Umweltministerium hat 2022 einen Projektbericht zum Zustand der Kanalisation in Baden-Württemberg vorgelegt. Am 15. November 2021 lagen für die Fortschreibung des Berichtes insgesamt freigegebene Daten von 980 der 1101 Kommunen sowie von 132 Abwasserzweckverbänden vor. Das Fazit des Berichts: „Etwa 28 Prozent der Mischwasserkanalisation, 15 Prozent der Schmutzwasserkanalisation und 16 Prozent der Regenwasserkanalisation zeigen Schäden der Schadensklassen 0, 1 oder 2 auf und müssen daher kurz- bis mittelfristig saniert werden. Die prognostizierten Gesamtsanierungskosten auf Basis der vorliegenden Angaben belaufen sich auf circa 4,6 Milliarden Euro.“

Wie sieht es in anderen Stadtteilen aus?

Womöglich ist in Balingen der Stadtteil Frommern auch nicht die einzige Baustelle, die den städtischen Haushalt künftig gehörig belasten wird. „Auch in den übrigen Ortsteilen ist die Kanalunterhaltung eine stetige Aufgabe“, hatte CDU-Rat Klaus Hahn es erst jüngst in seiner Haushaltsrede formuliert.

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