Balingen

Schicht im Schacht: Ein Großteil der Frommerner Kanalisation ist „faktisch am Ende“

26.01.2024

Von Nicole Leukhardt

Schicht im Schacht: Ein Großteil der Frommerner Kanalisation ist „faktisch am Ende“

© Ingenieurbüro ITR

"Massiver Rohrbruch, Gefahr von Komplettversagen" - so beschreibt das Ingenieurbüro ITR das Bild des Kanals in der Ebinger Straße von vergangenem Oktober.

Dem Fachmann für Kanalsanierungen wären am Donnerstagabend um ein Haar die negativen Superlative ausgegangen, als er den Frommerner Räten den Zustand der Kanalisation des größten Balinger Ortsteils näherbringen musste. „Das System ist unterdimensioniert, baulich mangelhaft und faktisch am Ende“, so sein dramatisches Fazit. Auf die Verwaltung kommen damit Kosten in Höhe von weit über 8,5 Millionen Euro zu.

Wer geglaubt hatte, ein Vortrag über die Feinheiten der Siedlungsentwässerung könnte trockene Materie sein, wurde in Frommern eines besseren belehrt. Immo Gerber vom Ingenieurbüro ITR aus Neukirch ob Eck legte in seiner Präsentation ausgesprochen anschaulich dar, wie es um den Frommerner Untergrund bestellt ist. Nämlich katastrophal.

Sein Büro hatte die Kanäle vergangenen Herbst begutachtet, eine Kamera hat, wo sie durchkam, Fotos vom Istzustand der Rohre gemacht. Die Fachleute haben sich angeschaut, wie und wo das Wasser abfließt, dazu wurden eigens Straßenzüge beregnet. „Die Bruckwiesenstraße hat zum Beispiel kaum Gefälle, da haben wir Straßeneinläufe gefunden, die nur Sonne sehen“, beschrieb er. Denn die Straße habe sich in den Jahren und Jahrzehnten gesetzt und gesenkt, „manchmal biegt das Wasser direkt vor dem Einlauf in eine andere Richtung ab“, schilderte er.

Angegriffene Rohre ...

In Frommern werde traditionell noch im Mischsystem entwässert. „Das bedeutet, dass Regen- und Schmutzwasser in einen Kanal fließen“, erklärte er. Eine Methode, die man heute nicht mehr verbaue. „Bei einem Wasseraufkommen von vier Litern pro Sekunde auf tausend Einwohner gerechnet und bei einem Gefälle von gerade einmal 1,5 Prozent in der Bruckwiesenstraße zum Beispiel, bleiben gewisse Dinge liegen, gasen vor sich hin und greifen den Beton an“, erklärte er einen Teilaspekt des Problems.

... zu viel Wasser aus den Außengebieten ...

Wenn es regne, käme dann jedoch wesentlich mehr Wasser zusammen, so eben nicht nur von Straßen und Gehwegen, sondern oft auch von Hofflächen, die keine eigene Entwässerung hätten. Und ein weiterer ganz wesentlicher Aspekt: Das Wasser von den Außengebieten. „Das Mischwassersystem ist nicht dafür ausgelegt, Außengebietswasser abzuführen“, so Gerber. Man könne schlicht nicht überall Kanäle in Größen verbauen, „die einmal in fünfzig Jahren in dieser Dimension gebraucht würden“, erklärte der Fachmann. Der Objektschutz, sprich, Rückstauklappen oder Hebesysteme, gelte als geeignete Maßnahme, um Überschwemmungen zu verhindern.

... und ein maroder Kanal

Doch eben jenes Außengebietswasser spiele in Frommern eine erhebliche Rolle, vor allem die Rappenbachdole. Allein der Rappenbach bringe bei Starkregen neun Kubikmeter Wasser pro Sekunde, rechnete Gerber vor. Die Gefahren, die der insgesamt marode Kanal mit sich bringt, hatte der Fachmann in einer Straßenkarte orange und rot markiert. Und es gab unzählige dieser Markierungen. „Der Kanal ist zum Teil völlig kaputt, wenn Wasser aus den Rohren in das Erdreich daneben dringt und es ausspült, kann das komplett kollabieren. Dann fällt Ihnen da ein VW Golf rein, dessen Fahrer ertrinkt“, beschrieb er mögliche Szenarien drastisch.

Um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen, ermöglichte er den Räten einen Blick in den Untergrund und zeigte, was die Kamera aufgenommen hat. „Es gibt Schachtbauwerke, wo Sie dem Wasser erstmal erklären müssen, wo es hin soll, manche Kanäle sind so oxidiert, die sind zum Teil nicht mehr da.“ Verschobene Verbindungen sorgten dafür, dass sich Senken bildeten, in denen das Wasser steht. Große eingewachsene Wurzeln, Kanalverschiebungen und fehlende Scherben seien bei der Befahrung an der Tagesordnung gewesen.

„Hausanschlüsse wie mit dem Maurerhammer geschlagen“

„Wir haben außerdem etliche unfachmännische Hausanschlüsse gefunden, die offenbar mit dem Maurerhammer eingeschlagen worden sind“, ergänzte er. Diese seien zudem zum Großteil völlig verkalkt, „da fließt nichts mehr“. Für manche dieser Rohre könne die Verwaltung gar Eintritt verlangen, „das hatte Bärenhöhlen-Niveau“, scherzte er. Solche „tiefbautechnischen Highlights habe ich in meinen 25 Berufsjahren in dieser Häufigkeit noch nie gesehen“, so sein Fazit.

Den Räten war indes kaum zum Lachen zumute, kommen doch enorme finanzielle Belastungen auf die Gemeinde zu. Allein für die Erneuerung des Kanalsystems schätzt der Fachmann die Kosten auf über 8,5 Millionen Euro, „da sind dann aber noch keine Straßenbauarbeiten oder ähnliches dabei“, schilderte er. 28 Prozent des begutachteten Kanalsystems weise sehr starke Mängel auf, 37 Prozent starke Mängel. „Das bedeutet, Dreiviertel des Netzes ist sofort zu machen.“

Auf Anwohner kommen Kosten zu

Bei der Auflistung der Schadensarten stach ein Posten besonders hervor. „Spitzenreiter sind die Hausanschlüsse, 80 Prozent der Schäden hat der Anschlussnehmer verursacht“, so der Fachmann. Hier droht den Anliegern weiteres Unbill: Während in anderen Kommunen andere Regelungen gelten, ist laut Balinger Abwassersatzung der Anwohner für den Anschluss bis in die Hauptleitung in der Straße verantwortlich. Die Kosten für die Reparatur des „zum Teil völlig versinterten“ Anschlusses werden somit in Balingen die Anlieger tragen müssen. „Wir lassen jeden Hausanschluss befahren und dokumentieren das Schadensbild“, ergänzte Tiefbauamtsleiter Markus Streich. „Wir werden die Anlieger in dieser Angelegenheit auf alle Fälle unterstützen“, sicherte Ortsvorsteher Reuß zu.

Die Rohre sind unterdimensioniert

Auch Ulrich Teufel regte an, Hausbesitzer möglichst früh zu informieren. „Das muss ja jeder finanzieren“, gab er zu bedenken. Günther Meinhold stellte die Frage, ob das Balinger Modell gerecht sei, bei dem Grundstücksbesitzer für den Anschluss bis Mitte Straße verantwortlich seien. „Für die Stadt ist das bequem und finanziell positiv, aber ist es gerecht, wenn der Kanal beispielsweise durch den Schwerlastverkehr in der Ortsdurchfahrt Schaden nimmt?“ Eine Frage, die auch Tiefbauamtschef Streich nicht abschließend zu beantworten vermochte. Grundsätzlich sei festzuhalten, betonte Immo Gerber, dass „der hydraulische und bauliche Zustand des gesamten Systems miserabelst ist“.

Mancherorts ist Gefahr im Verzug

Und nun? „Wo Gefahr im Verzug ist, muss umgehend gehandelt werden“, mahnte er. Auf lange Sicht müsse der Kanal zweifelsohne vergrößert werden, wie die Anwohner seit langem betonen. „Sie waren da schon auf dem richtigen Dampfer“, wandte sich Frommerns Ortsvorsteher Stephan Reuß in diesem Punkt an zahlreiche Anlieger betroffener Straßen, die in die Sitzung gekommen waren.

„Das Kanalnetz ist nach den heutigen Maßstäben unterdimensioniert und muss bei einer Sanierung entsprechend aufdimensioniert werden“, bestätigte auch Immo Gerber. Der bauliche Zustand offenbare erhebliche Mängel, zum Teil mit „Gefahr im Verzug“. „Daher müssen hier in einem ersten Schritt Sofortmaßnahmen zur Sicherung der regelgerechten Funktion durchgeführt werden“, heißt es in der Stellungnahme des Ingenieurbüros. Die durchgeführte Simulation gehe von einem einwandfreien Kanal aus und könne diese baulichen Defizite nicht darstellen, daher sei das Netz an vielen Stellen noch weniger leistungsfähig als berechnet. „Zudem kann und wird damit auch zukünftig kein Starkregen abgeführt werden können.“

Manches muss umgehend repariert werden

Zunächst sollen Reparaturen in geschlossener Bauweise stattfinden mit sogenannten Linern, da mittelfristig, auch aus hydraulischen Gründen, die meisten Haltungen, also das Verbindungsstück zwischen zwei Schächten, sowieso ausgewechselt werden müssen. 630.000 Euro seien dafür zu kalkulieren, so Gerber. Rohrbrüche allerdings müssten in einer offenen Baustelle behoben werden. 270.000 Euro fielen hierbei geschätzt für die dringend notwendigen Sofortmaßnahmen an. „Uns ist klar, dass das viel Geld ist und im Endeffekt auch nur wie Pflasterkleben – das wird alles auf lange Sicht wieder rausgerissen“, ordnete der Fachmann die Kosten ein. Momentan konzentrierten sich die Bauarbeiten darauf, das System wieder stand- und betriebssicher zu machen.

Ob und wann möglicherweise einmal ein Hochwasserrückhaltebecken für den Rappentalbach mit einer Größe von über 4000 Kubikmetern gebaut werden kann, ließen die Verantwortlichen offen. Zunächst gelte es, die dringend notwendigen Reparaturen zu stemmen, damit wenigstens dort wieder – sprichwörtlich – Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist.

Die Heinzengasse ist nicht vergessen

Eine (möglicherweise) gute Nachricht gab es dann in Sachen Hochwasserschutz doch noch: Ein Anwohner der Heinzengasse hatte sich erkundigt, warum in Sachen Überschwemmung nie von der kleinen Gasse gesprochen werde, hätten deren Anwohner doch allein beim letzten Starkregen im Mai über 145.000 Euro Schaden erlitten. „Und das ist nur die Summe, die die Versicherungen übernommen haben, die Schäden waren höher“, betonte er. „Es wurden zwei Randsteine gesetzt, seither ist nichts passiert. Seit drei Jahren hängt ein Absperrband dort, der Hang ist völlig unterspült“, ärgerte er sich. „Das ist alles Murks, ich verstehe nicht, warum da nichts passiert“, ergänzte er. Tiefbauamtschef Streich bestätigte, dass auch die Verwaltung um den Handlungsbedarf wisse, „das ist für uns alle unbefriedigend“, betonte er. Diese Verzögerungen seien nicht mit den Planungen für den Klinikneubau zu begründen, „in der Sache sind wir vollkommen bei Ihnen.“ Er versprach, dass baldmöglichst Abhilfe geschaffen werde.

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