Sigmaringen

Nach Geiselnahme in Sigmaringer Landratsamt: „Ich dachte, mein Leben ist jetzt vorbei“

30.11.2020

Von Lea Irion

Nach Geiselnahme in Sigmaringer Landratsamt: „Ich dachte, mein Leben ist jetzt vorbei“

© Victor S. Brigola

Im Sigmaringer Landratsamt kam es im Juni laut Erkenntnissen der Kriminalpolizei zu einer Geiselnahme.

Im Sommer dieses Jahres soll ein junger Asylbewerber nach Ansicht der Staatsanwaltschaft eine Beamtin der Ausländerbehörde als Geisel genommen haben. Zeugenaussagen zum Prozessauftakt deckten sich mehrheitlich. Der Angeklagte berief sich als Grund für seine Tat auf traumatische Erlebnisse während seiner Flucht.

3. Juni 2020. Bis kurz vor zehn Uhr war es ein ruhiger Mittwochmorgen im Landratsamt in Sigmaringen. Eigentlich hätte ein junger Asylbewerber schon um 9 Uhr seinen Termin dort gehabt. Er war unpünktlich, denn er schlief laut eigener Aussage in den Nächten zuvor freiwillig auf der Straße. Er wolle dem Landratsamt nicht auf der Tasche liegen, wolle für sein Geld arbeiten gehen.

Die Krux bei der Sache: Eine Arbeitserlaubnis hat der junge Mann zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Sein Pass fehlt. Und die Ausländerbehörde kann nur dann helfen, wenn diese Papiere vorliegen.

An jenem Junimorgen hatte die zuständige Sachbearbeiterin schon tags zuvor ein mulmiges Gefühl, bat deshalb ihre Chefin um Mithilfe bei dem Termin. Denn dem jungen Mann sollte ein weiteres Mal vermittelt werden, dass er hier in Deutschland im Moment nicht arbeiten kann.

Schon mindestens 20 Mal habe sie dem Asylbewerber erklärt, dass es ohne Ausweis nicht mehr weitergehe. Er habe aber keine Einsicht gezeigt, zerriss schon einmal seine Duldungspapiere vor den Augen der zuständigen Beamtin. Ihre ungute Vorahnung sollte sich bestätigen. Wenige Minuten später fürchtete eine Kollegin um ihr Leben.

Trauma als Auslöser

Was sich am 3. Juni genau zutrug, versucht das Landgericht Hechingen nun zu klären. Die Anklage gegen den Asylbewerber aus Nigeria lautet auf Geiselnahme, gefährliche Körperverletzung und Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Am Montagmorgen war Prozessauftakt.

Laut Anklage der Staatsanwaltschaft kam es am 3. Juni im Gespräch mit den beiden Mitarbeiterinnen der Ausländerbehörde zur Eskalation. Da der Asylbewerber nicht akzeptieren wollte, dass ihm immer noch keine Arbeitserlaubnis erteilt wurde, habe er gegen eine Scheibe aus Plexiglas geschlagen, die als Spuckschutz auf zwei Holzblöcken auf einem Tisch montiert war. Die Beamtinnen brachten sich daraufhin im Nebenraum in Sicherheit.

Zwischenzeitlich wählten sie den Notruf. „Ja, ja, ruft doch die Polizei“, habe der junge Mann mehrfach auf Englisch geschrien. Er nahm die Holzblöcke an sich, habe sie „wie Waffen“ wiederholt aneinander geschlagen. „Es war eine sehr bedrohliche Lage“, sagte eine Zeugin.

Pfefferspray führt zum Erfolg

Er sei in das Foyer gegangen, wo auch die Mitarbeiterinnen der Ausländerbehörde auf die Polizei warteten. Der Asylbewerber sei laut geworden, habe sich über seine missliche Lage beschwert. Dann aber habe er die Holzblöcke auf einem Tisch abgelegt, ehe zwei Polizisten eintrafen. Die Situation eskalierte daraufhin ein zweites Mal.

Der Angeklagte habe sich langsam den Beamtinnen der Ausländerbehörde genähert, legte seinen Rucksack ab, den er auf dem Rücken mit sich trug. „Dann ging alles ganz schnell.“ Er habe ein Messer gezückt, sei an der Gruppe vorbeigegangen, habe dann im letzten Moment eine der Beamtinnen geschnappt und diese als Geisel genommen.

Das Messer habe er der Frau an den Hals gelegt. „Ich dachte, mein Leben ist jetzt vorbei“, sagte sie schluchzend im Zeugenstand. Sie habe geschrien. Was dann passierte, wisse sie nicht mehr. Laut mehreren Zeugenaussagen hielt einer der Polizeibeamten seine Waffe an die Schläfe des Asylbewerbers. Der andere setzte Pfefferspray ein.

Der Angeklagte sei schreiend zu Boden gegangen, seine Geisel ebenfalls. Mit Händen und Füßen wehrte sich er sich gegen die Festnahme und verletzte dabei die Polizisten mehrfach an den Armen. Bis zum Prozessauftakt saß er in der Justizvollzugsanstalt in Haft.

Mit dem Lastwagen in Richtung Freiheit

Detailliert beschrieb der Angeklagte vor Gericht, wie es zur Eskalation kommen konnte. Ausschlaggebend sei die Waffe des Polizisten gewesen, die ihm an den Kopf gehalten worden sei. Sie habe ein Trauma wiedererweckt, das er auf seiner Flucht nach Deutschland erlitten habe.

Geboren wurde der junge Mann in Nigeria. Er sei mit elf Geschwistern aufgewachsen. Sein Vater starb, als er sechs Jahre alt war. Lange Zeit habe er als junger Kerl Probleme mit seiner Stimme gehabt. Fast pfeifend sei sie manchmal gewesen. Die Operation dafür war zu teuer. Die Lösung: die Flucht nach Europa.

Er suchte Hilfe, sei dann an ein Mitglied einer Mafia geraten. 30.000 Euro sollte er dafür bezahlen, dass man ihn nach Italien bringe. Gerade mal 5000 Euro konnte er auf Anhieb zahlen. Den Rest sollte er als Drogendealer im Ankunftsland eintreiben.

Sprung aus dem zweiten Stock

Der Weg in ein besseres Leben verlief laut Aussage des Angeklagten aber ganz anders als erhofft. Die Schlepper hätten mehrere Flüchtlinge in einem Lastwagen durch die Wüste Algeriens gefahren. Eine Woche habe das gedauert. „Wir hatten kein Wasser, viele mussten Urin trinken.“

Dann sei der Lastwagen von einer bewaffneten Miliz angegriffen worden. „Asman-Boys“ nannte sie der Angeklagte. Er habe gesehen, wie andere der Gruppe erschossen wurden und leblos aus dem Lastwagen gefallen seien. Er selbst sei von den Angreifern gefangen genommen worden und musste anderthalb Monate in einem Gefängnis leben.

Dort sei der Albtraum in einer Tour weitergegangen. 2000 Euro, die er für die Flucht dabei hatte, wurden eingezogen. Frauen wurden vergewaltigt. Andere Menschen wurden so sehr gefoltert, dass sie verbluteten. Irgendwann habe man ihn dann nach Libyen verschleppt.

Nach einem Monat Gefangenschaft habe er durch einen Sprung aus dem zweiten Stock entkommen können. Er kam nach Italien, verweigerte aber die Arbeit als Drogendealer. Das sei ihm zuwider gewesen. Dann kam er nach Deutschland.

Von Geburt an Kämpfer

Seit seiner Geburt habe er kämpfen müssen „Ich bin nur ein junger Mann, der arbeiten will“, sagte er. Arbeit, die ihm trotz all seiner Anstrengungen verwehrt geblieben sei. Seit fünf Jahren sei er schon hier. Anfangs hatte er eine Aufenthaltsgestattung, wie eine Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde vor Gericht aussagte. 2018 wurde ihm eine Duldung erteilt und zunächst auch eine Arbeitserlaubnis.

Diese habe er rege genutzt. Mal arbeitete er auf dem Bau, mal half er in der Produktion. Aber nach drei Monaten einer Duldung werden Identitätspapiere notwendig. Papiere, die der Angeklagte nicht vorzuweisen hatte. Und in den Folgemonaten auch nicht auftrieb – trotz mehrfacher Hinweise der Beamtinnen.

Die Taten des 3. Junis hinterließen tiefe Spuren. Die Betroffene erlitt laut eigener Aussage ein schweres Trauma. Schlaflose Nächte und wöchentliche Therapiesitzungen seien nur die Spitze des Eisbergs. „Ich wurde aus dem Leben geworfen.“

Von Lebenslust zum Alltagsfrust

Ein ähnliches Bild zeichneten auch andere Zeugen. Sie sei lebensfroh, lustig, belastbar gewesen – bis zu jenem schicksalhaften Tag. Seither ist sie arbeitsunfähig. Eine Beamtin, die immer mal wieder mit ihr spazieren gegangen war, sagt, dass ihre Kollegin nicht einmal in die Nähe des Landratsamtes kommen könne. „Sie kriegt da Lähmungserscheinungen. Es ist entsetzlich, wie fünf Minuten ein Leben zerstören können.“

Auch das Landratsamt selbst hat nach der Tat Maßnahmen gegriffen. Bis Ende Juli wurde das Gebäude von einer Sicherheitsfirma überwacht. Seit August gilt das noch an jedem Donnerstag. Außerdem investiert die Behörde 20.000 Euro in die Sicherung der Büros der Ausländerbehörde. Nicht etwa, weil es lange geplant war, sondern „rein aufgrund der Geiselnahme“, wie eine Zeugin beteuerte.

So geht es weiter

Und der Angeklagte? Er berief sich mehrfach darauf, dass er von den Polizeibeamten „mit Waffen verfolgt“ worden sei. Das habe schließlich seine Erinnerungen an die Flucht hervorgeholt und seine Reaktion ausgelöst. Aber jeder Zeuge, den er danach fragte, ob er wie beschrieben verfolgt worden sei, antwortete mit Nein.

Das Gericht sieht in dieser Sache drei weitere Verhandlungstage vor. Der nächste findet am Donnerstag, 3. Dezember, im Landgericht Hechingen statt. Der Straftatbestand einer Geiselnahme sieht laut Staatsanwaltschaft eine Mindeststrafe von nicht unter fünf Jahren vor. Für minderschwere Fälle wird mindestens ein Jahr Haft fällig.

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