Balingen

Historiker geben bei Spaziergang durchs Engstlatter Ried Einblicke in dunkle Geschichte des Ortes

16.05.2022

Von Dennis Breisinger

Historiker geben bei Spaziergang durchs Engstlatter Ried Einblicke in dunkle Geschichte des Ortes

© Dennis Breisinger

Anhand von Luftaufnahmen erklärte Dr. Karl Kleinbach, wie das Wüste-Werk im Ried aussah.

Im Engstlatter Ried machen der Arbeitskreis Wüste Balingen und der Gedenkstättenverein KZ Bisingen mit Hörstationen die Geschichte lebendig. Wer die QR-Codes mangels Smartphone nicht abrufen kann oder sich für weitere Erläuterungen interessierte, konnte am Sonntag im Rahmen des Museumstages bei einem Spaziergang über das frühere Wüste-Werk 3 von den Fachleuten mehr über die Gräueltaten der Nazis erfahren.

Auf Initiative des Arbeitskreises (AK) Wüste Balingen und dem Gedenkstättenvereins KZ-Außenlager Bisingen ist seit September des vergangenen Jahres im Engstlatter Ried die Geschichte erlebbar. An diesem Ort war das Wüste-Werk 3, in dem Treibstoff aus Ölschiefer gewonnen werden sollte. Mit Hilfe von QR-Codes an sechs ausgewählten Audiostationen kann dieser dunkle Teil der regionalen Historie miterlebt werden.

„Unsere ursprüngliche Idee ist es, dass die Interessierten sich mit ihren Smartphone alleine auf diesen Weg begeben, was uns auch sehr gut gelungen ist. Es gibt bereits über 2500 Downloads der App“, freute sich Dr. Karl Kleinbach vom AK Wüste über so viel Zuspruch.

Informativer Spaziergang mit Erläuterungen

Da allerdings nicht jeder über ein Smartphone verfügt und diese digitale Möglichkeit nutzen kann, erwies sich der Tag des offenen Museums am Sonntag als mehr als geeignet für den Spaziergang über das Gelände des ehemaligen Wüste-Werks.

Für Fragen und Erläuterungen standen mit Dr. Kleinbach und der zweiten Vorsitzenden des Gedenkstättenvereins KZ-Außenlager Bisingen, Dr. Ines Mayer, die geeigneten Personen zur Verfügung.

Historiker geben bei Spaziergang durchs Engstlatter Ried Einblicke in dunkle Geschichte des Ortes

© Dennis Breisinger

Zahlreiche Interessierte nahmen an der Führung teil.

Los ging es am Treffpunkt Bahndurchgang, wo Bernhard Hurm als Sprecher die Audioaufnahme mit den eindringlichen Worten „Stell dir vor: Hier haben 1944 KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Verschleppte innerhalb von ein paar Monaten das gesamte Gelände umgegraben“ eröffnete.

Oft zeugen nur noch Splitter von grausamer Zeit

Weitere Audiostationen befinden sich unter anderem bei der Trafostation – dem einzigen verbliebenen Gebäude, das noch steht – an dessen Rückseite die Stromleitungen zum Teil noch erkennbar sind, sowie am ehemaligen Abbaugelände. Ansonsten deuten nur noch Metallsplitter und andere Fundstücke auf diese grausame Zeit hin.

„Einige der vom Landesdenkmalamt untersuchten Metallsplitter werden wir im Juli bei den Stelen vergraben“, blickte Dr. Kleinbach voraus. „Gehen Sie doch einmal bei Gelegenheit über die umgepflügten Äcker im Ried und mit Glück werden auch sie ein Haufen Metall finden“, sagte er den Teilnehmern.

Historiker geben bei Spaziergang durchs Engstlatter Ried Einblicke in dunkle Geschichte des Ortes

© Dennis Breisinger

Die Trafo-Station ist das einzige im Ried verbliebene Gebäude aus der NS-Zeit.

„Insgesamt 1187 Häftlinge starben an Entkräftung, Krankheit und bei Unfällen“, wusste Dr. Kleinbach zu berichten. „Für alle Häftlinge stand am frühen Vormittag erst einmal ein fünf bis sechs Kilometer langer Marsch aus Bisingen an. Es folgten zehn bis zwölf Stunden harte Arbeit am Tag, das Essen war karg, es gab Demütigungen, Schläge und willkürliche Drangsalierungen“, gab der Engstlatter Einblick in das Leben der Zwangsarbeiter, die seinen Ausführungen zufolge nicht wussten, wo sie sich befanden.

Ölgewinnung war ein hoffnungsloses Unterfangen

„Sie fragten sich immer wieder nach dem Sinn ihrer Arbeit, weil sie nicht verstanden, nach was gegraben wurde und was das überhaupt sollte und das völlig zu Recht, denn die versuchte Gewinnung von Ölschiefer war ein hoffnungsloses, bizarres, sinnloses und furchtbares Unterfangen“, meinte Dr. Kleinbach.

An den Audiostationen können unter anderem auch der Balinger Schauspieler Sascha Gersak und die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky, die das Werk „Schiefern: Gedichte“ schrieb, auch Prominenten zugehört werden. Laut Kinsky kann an schreckliche Ereignisse auch ohne Denkmal erinnert werden, denn etwas sei zwar nicht mehr da, aber es sei weiterhin anwesend.

Die meisten Audios sind allerdings Ausschnitte von Shoah-Interviews, die oftmals bis zu einer Stunde dauerten. Diese wurden laut Dr. Ines Mayer vor allem in den 1990er-Jahren geführt. Die Antworten und Aussagen von früheren KZ-Häftlingen wie Jacob Epstein, Mejloch Jozsef Kach, Nathan Steinmann oder dem ehemaligen Wachmann Rudi Bonin sind als O-Töne bewahrt. Ihre Worte werden sicherlich auch ohne sprachliche Übersetzung noch lange im Gedächtnis bleiben.

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