Hechingen

Die Sherpa der Couchpotatoes: 81-Jährige trainiert Laufanfänger in Hechingen

18.04.2024

Von Julia Siedler

Die Sherpa der Couchpotatoes: 81-Jährige trainiert Laufanfänger in Hechingen

© Julia Siedler

Die ehemalige Gymnasiallehrerin Karin "Kai" Boll lebt seit über 50 Jahren in Hechingen. Einer ihrer Lieblingsplätze? Die Aschenbahn im Weiherstadion.

Karin „Kai“ Boll hat den Zweiten Weltkrieg in Ulm überlebt und war lange Zeit erfolgreiche Leistungssportlerin. Auch heute noch, mit 81 Jahren, gibt sie bei der LG Steinlach-Zollern in Hechingen ihre Laufleidenschaft an Laufanfänger und Wiedereinsteiger weiter.

Mit ihren akkurat pink lackierten Nägeln tippt sie in ihr Smartphone, während sie auf ihr Interview mit dem ZOLLERN-ALB-KURIER im Hechinger Weiherstadion wartet. „Kein Problem“, sagt sie und lacht, als die Redakteurin eintrifft. „Ich habe noch ein bisschen Spanisch gelernt.“ Für den Termin mit der Presse hat sie sich in ihre „Ausgehuniform für Siegerehrungen“ geworfen.

Karin „Kai“ Boll ist vor einem Monat 81 Jahre alt geworden. Ihren Geburtstag feierte sie unter anderem mit „ihren“ Läufern in der Umkleidekabine des Stadions. Ihre bisher letzte offizielle Trophäe holte sie mit 75 als baden-württembergische Seniorenmeisterin im 10-Kilometer-Straßenlauf. Mittlerweile ist die frühere Lehrerin und Mutter zweier Töchter pensioniert und gibt sich seit mehr als 10 Jahren dem Breitensport hin. Dafür trainiert sie bei der LG Steinlach-Zollern Laufanfänger und die, die erneut starten. „Breitensport ist noch mal was ganz anderes als Wettkampfsport“, erklärt sie. Beim Breitensport komme es „nicht auf die Sekunde an, das sind keine weltrekordsverdächtigen Sachen“. Diesen hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten zur Genüge gewidmet. „Jemand, der direkt aufgibt, sucht sich diesen Sport erst gar nicht aus.“

Ein bewegtes Leben – auf alle Arten

In einer Bombennacht im März 1943 kam „Kai“, wie sie auch ihre Läuferinnen und Läufer liebevoll nennen, in die Schrecken des Zweiten Weltkriegs in Ulm-Söflingen zur Welt. Kein besonders warmer Ort für einen Säugling. Ihre Mutter, so habe man ihr erzählt, sei als Einzige hochschwanger im Flur gestanden und habe auf das Taxi gewartet, das sie ins Krankenhaus hätte bringen sollen. „Mein Vater ist in Russland gefallen, als meine Mutter mit mir im 7. Monat schwanger war.“

Das Taxi habe sie abgeholt und bis zu einer nahegelegenen Brücke gefahren – „doch dann war Fliegeralarm“. Der Taxifahrer bedauerte, dass er nun Offiziere fahren müsse; versprach ihr aber, sie später wieder im Hauseingang abzuholen. „Dort stand sie – alleine mit ihren Wehen und mitten im Geschehen“; alle anderen hätten sich in Schutzräumen im Keller verschanzt.

„Vielleicht hat mich das doch irgendwo geformt“

Nach einiger Zeit der Entwarnung sei der Fahrer tatsächlich wieder gekommen. Gerade, als Kai sich auf den Weg auf die Welt machte, gab es einen erneuten Alarm. „Wieder sind wohl alle in den Keller gerannt und haben meine Mutter einfach alleine liegen lassen.“ Bis die Ärzte und Schwestern wiedergekommen sind, hätten sie nur noch die Nabelschnur durchtrennen müssen. Doch in einer unerträglich lauten Nacht war der Säugling nur eines: still. Wie man ihr später erzählt habe, seien in jener Nacht viele Kinder tot zur Welt gekommen.

Ein Schicksal, das Anwesende auch ihr bereits bescheinigen wollten – bis ein Arzt ihr einen beherzten Klaps gegeben habe – und sie einen stummen Schrei in die tiefschwarze Nacht getan habe. „Vielleicht hat mich das doch irgendwo geformt.“ Ob bei ihr zuerst der Wille, durchzuhalten, da war – oder die Umstände sie zum Durchhalten gezwungen haben? Sie weiß es selbst nicht. Sicher sei: „In meinem Leben war ich immer eine Frau, die sich ständig selbst zum Durchhalten überwinden musste – in vielen Bereichen.“

Wegbegleiter, die ihr ihren ‚Berg‘ wiesen

Weniges war leicht in Kriegszeiten und mit einem „Vater im Himmel“. Doch die Gründung einer Basketball-Mädchenmannschaft zu Schulzeiten sei es überraschenderweise gewesen. Professor James Naismith hatte die Sportart seinerzeit erfunden, um seine Leichtathleten auch im Winter fit zu halten. Bolls Englischlehrer habe nach seiner Referendarszeit in den Staaten gefragt, wer mit ihm Basketball spielen wolle: „Und so waren wir die erste Basketball-Mädchenmannschaft in ganz Ulm.“

Die Mädchen wurden von Anfang an akzeptiert. „Das war ja eine Stadt, da war man frei.“ Viele Amerikaner der Garnisonsstadt traten dem Verein damals bei: „Ich habe viel gelernt“. Der Sport habe ihr die Grundvoraussetzungen für die Leichtathletik gebracht: Sprungkraft, Antritt, Koordination, Zwei-Schritte-Regel. Kurzerhand turnt Boll die Übungen in der Umkleide des Weiherstadions vor.

Durch den Mathelehrer und eine Olympionikin zum Laufsport

„In der 11. Klasse am Wirtschaftsgymnasium Ulm bin ich bei den Bundesjugendspielen ohne Üben Schulmeisterin geworden – obwohl ich nicht mal richtige Turnschuhe hatte, nur solche Schläppchen“, erzählt sie. Ihr damaliger Mathe-Lehrer, dessen Sohn die Leichtathleten trainiert hatte, sollte zum Wegweiser werden: „Mädchen – du musst zur Leichtathletik gehen!“ In der Mannschaft zu kämpfen war zwar schön für Boll, „aber ich wollte wissen, was ich alleine leisten kann“. Um das herauszufinden, sei sie fortan von der Ulmer Weststadt jeweils 7 Kilometer mit dem Fahrrad zum Leichtathletik-Training in die Oststadt und wieder zurückgefahren.

Zum 800-Meter-Lauf schließlich sei sie über keine Geringere als Rita Czech-Blasel gekommen, Olympiateilnehmerin im Jahr 1960 in Squaw Valley. Czech-Blasel studierte mit Boll an der Sportschule in Stuttgart und habe im Winter Waldläufe gemacht. Boll entschied sich dazu, sie zu begleiten: „Kai, wenn du das durchhältst – du bist die 800-Meter-Läuferin“, habe die Olympionikin zu ihr gesagt. Im tiefsten Winter sind die beiden jungen Frauen dann in Feuerbach mit einer Stoppuhr über den Stadionzaun geklettert – und Boll ist die 800 Meter auf verschneiter und vereister Aschenbahn in 2.30 Minuten gelaufen. Daraufhin habe sie eine erstaunte Czech-Blasel weiterhin angespornt, damit sie sich in Wettkämpfen messe. Das habe sie immer gerne getan, „aber der Sieg war mir nie das Wichtigste“.

Das Glück liegt nicht auf dem Siegertreppchen

Weil die Teilnahme für Frauen lange Zeit verboten war, waren diese auch oft unterrepräsentiert, erinnert sich Boll. Mediziner fürchteten damals gesundheitliche Schäden für Frauen. Den 400-Meter-Lauf habe sie mit einer Freundin und ihrem Vater im Wald trainiert, „weil ich keinen Trainer dafür hatte“. Bei den Schwabenfestspielen in Sindelfingen sei sie dennoch Erste geworden und „württembergische Bestzeit gelaufen“, erzählt sie stolz. „Aber das Glück, das ich meinte, das man hat, wenn man gewinnt – das ist nicht da gewesen.“

Als Boll um die 18 und beim SSV Ulm war, nahm sie Elle Freudenberger – Vorreiterin für Frauen in der Leichtathletik – unter ihre Fittiche, obwohl die beiden Frauen in Konkurrenzvereinen tätig waren und Boll dem SSV treu blieb. Auch Sigrun Kofink, eine weitere Wegbegleiterin, war über Jahre hinweg Deutsche Meisterin im Diskuswurf und habe „gute Frauen“ um sich geschart. Für eine Mehrkampf-Mannschaft bei den Deutschen Mannschaftsmeisterschaften (DMM) sei sie auch auf Boll zugegangen. Sie haben es bis zur Deutschen Meisterschaft gebracht.

Bewegung als Lebenselixier: „Ich bin eine alte Tante geworden“

„Mich zu bewegen, gehört zu mir“, sagt Boll. „Das ist ein Grundbedürfnis.“ Seit ihrer Pensionierung sei sie „eine faule Tante geworden“ – legt jedoch noch immer etwa 32 Kilometer in der Woche zurück. Hinzu kommen Läufe wie der Trail am Mount Robson mit Zelt und Verpflegung auf dem Rücken – „da war ich 70“ –, Gletschertouren „bis oben rauf“ und das Tingeln durch mexikanische Canyons. „Ich habe immer Sachen unternommen, die mich herausgefordert haben, an meine Grenzen zu gehen.“

Die Sherpa der Couchpotatoes: 81-Jährige trainiert Laufanfänger in Hechingen

© Julia Siedler

Schwebt mit ihren 81 Jahren noch immer für die LG Steinlach-Zollern über die Aschenbahn.

Aber auch sie kenne schwache Momente. Vor allem auf der Mittelstrecke mit 600 Metern komme immer „der mit dem Hammer“ und der Frage: „Wieso tue ich mir das bloß an?“ Die Antwort: „Das unbeschreibliche Glück beim Ankommen.“ Anfängern und Wiedereinsteigern empfiehlt sie, sich Zeit zu lassen und mit Gleichgesinnten „regelmäßig und fleißig“ zu trainieren. „Ausdauer kommt vor Schnelligkeit.“ Ob es wohl eine Altersgrenze für Läufer gibt? „Grundsätzlich würde ich sagen: nein!“

Keine Ziellinie in Sicht – Boll läuft weiter

Erst kürzlich habe sie einen Artikel über eine 90-jährige Marathonläuferin gelesen. „Ich würde es nicht am Alter, sondern an der körperlichen Verfassung festmachen.“ Sie selbst sei „Kriegsware“. Ihr Durchhaltevermögen hat sie zuletzt nach mehrfachen Corona-Erkrankungen und einem Sturz bewiesen: Bei einem Hechinger Fitnessstudio für Frauen hat sie sich mittels Krafttraining zurück zum Laufen gekämpft. Nun bringt sie wieder ihre „Couchpotatoes“ über den Berg. Bei der Fusionierung mit der LG Steinlach trug sie zudem dazu bei, dass sich auch das „Zollern“ im Namen des Vereins wiederfindet – „wir sind ja trotzdem Hechinger“. Ihre Ziele für die Zukunft? „Weiterhin an meine Grenzen gehen und so lange zu laufen, wie mein Körper mitspielt.“ Eine Ziellinie scheint für Boll noch lange nicht in Sicht.

Eine Ziellinie scheint für Boll noch lange nicht in Sicht.

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