Balingen

Alte Wunden, neue Wunden: Vom Schicksal und Gedenken der Zwangsarbeiterin Elisabeth Renne

27.05.2022

Von Gert Ungureanu

Alte Wunden, neue Wunden: Vom Schicksal und Gedenken der Zwangsarbeiterin Elisabeth Renne

© Gert Ungureanu

Gerda Renne und Ihre Tochter Tanja besuchten gemeinsam mit ihren Lebensgefährten am Freitag erstmals das Grab ihrer Schwägerin/Tante Elisabeth Renne auf dem Balinger Stadtfriedhof.

Die holländische Zwangsarbeiterin Elisabeth Renne, die 1945 in Balingen gestorben ist. Ihre Verwandten, die am Freitag erstmals das Grab auf dem Balinger Stadtfriedhof besuchen konnten. Ein Fünffachgrab, in das die Stadt Balingen erst vor zwei Jahren gleichfalls Täter und Opfer des Naziregimes umbetten ließ. Für Stadtarchivarin Yvonne Arras und Historiker Dr. Michael Walther ist das städtische Tun ein befremdlicher Vorgang.

Als Tanja Renne und ihre Mutter Gerda vor dem Grabstein neben dem Balinger Ehrenmal stehen, haben sie Tränen in den Augen. 77 Jahre nach dem Tod ihrer Schwägerin beziehungsweise Tante, haben sie das Grab von Elisabeth Renne ausfindig gemacht. Sie hatten zuvor das Internationale Rote Kreuz angeschrieben, verschiedene Behörden in Deutschland und Balingen. Jetzt, endlich, sind sie angekommen.

Der Name war geläufig

Tanja und Gerda Renne leben in Breda in Holland. Nach einem Urlaub im Schwarzwald haben sie für ein paar Stunden in Balingen angehalten und sind auf Spurensuche gegangen. Mit dabei: Stadtarchivarin Yvonne Arras und Michael Walther vom Arbeitskreis „Wüste“. Der Stadtarchivarin war der Name der Gesuchten geläufig gewesen, als die Anfrage ins Stadtarchiv gekommen war.

Alte Wunden, neue Wunden: Vom Schicksal und Gedenken der Zwangsarbeiterin Elisabeth Renne

© Privat

Ein Porträtfoto von Elisabeth Renne.

Wer war Elisabeth Renne? „Die Schwester meines Vaters“, sagt Gerda Renne. Ihr Vater, der gesundheitlich stark angeschlagen gewesen sei, wäre auch gerne nach Balingen gekommen, nachdem die Familie 2005 herausgefunden hatte, dass es hier wohl das Grab gab. Aber das habe er nicht mehr geschafft. Ihre Mutter habe hingegen nie von der Schwägerin gesprochen. Warum, wisse sie nicht.

Jetzt, meinen die beiden Frauen, könnten sie endlich mit der Familiengeschichte abschließen: „Man wird ruhiger“, sagt sie, „wenn man weiß, wo es ist.“

Verstorben an Tuberkulose

Was die beiden Frauen bis zu ihrem Besuch in Balingen nicht wussten: Am 8. März 1945, kurz vor ihrem Tod, hatte Elisabeth Renne ein Kind zur Welt gebracht. Einen kleinen Jungen, der im Alter von nur drei Wochen gestorben ist. Sein Name war Antonio. „Wohl nach seinem Großvater, der Anton hieß“, meint Tanja Renne. Was die beiden Frauen aus den Erzählungen des Vaters wissen, ist, dass Elisabeth Renne wohl heiraten wollte. Dazu sei es nicht mehr gekommen: Sie starb am 26. April 1945 an Tuberkulose. Wohl im damaligen Kreiskrankenhaus, direkt gegenüber vom Friedhof.

Freiwillig nach Nazi-Deutschland

Warum sie am 30. Juni 1944 nach Balingen gekommen ist? Vermutlich freiwillig, meint Michael Walther. „Um Geld zu verdienen.“ Knapp drei Tage davor sei sie aus den Niederlanden ausgereist. Daheim, in Holland, sei man davon ausgegangen, dass sie im Krankenhaus gearbeitet habe, sie sei Krankenpflegerin gewesen. Aber in den Unterlagen heißt ihre Berufsbezeichnung „Rüstungsarbeiterin“. Wahrscheinlich bei dem Ableger, den die Oberndorfer Waffenschmiede Mauser in Balingen gebaut hatte, nachdem die Gießerei in Oberndorf zerbombt worden war.

Aufgrund der Lebensumstände und der Tatsache, dass Elisabeth Renne in einem Lager für Zwangsarbeiter gelebt hat, sind sich Dr. Arras und Dr. Walther sich, dass auch die Holländerin als Zwangsarbeiterin hatte schuften müssen.

Wahrheit nie mitgeteilt

Sie habe ihrer Familie die Wahrheit nie mitgeteilt. Warum das? Und warum habe die Mutter nie über die Schwester des Vaters gesprochen? Vielleicht, vermutet die Stadtarchivarin, habe sie sich geschämt, dass die Schwester ihres Mannes freiwillig nach Nazi-Deutschland gegangen sei.

Bitterer Beigeschmack

Die Vergangenheit, konkret das Leben und Sterben von Elisabeth Renne, ist für Ihre Verwandten nun offenkundig. Für Stadtarchivarin Arras und Historiker Walther hat ihr Grab auf dem Balinger Friedhof aber einen bitteren Beigeschmack: „Fünf Tote aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs sind her umgebettet worden“, sagt sie und kritisiert: „Als Ehrengräber zusammengelegt, obwohl es ethisch und moralisch fragwürdig ist: Täter und Opfer liegen beieinander.“

Alte Wunden, neue Wunden: Vom Schicksal und Gedenken der Zwangsarbeiterin Elisabeth Renne

© Gert Ungureanu

Historiker Dr. Michael Walther legt am umstrittenen Fünffachgrab Blumen für Elisabeth Renne ab.

„Ich frage mich dabei schon, wofür man im Jahr 2009 in Balingen den Arbeitskreis Wüste gegründet hat, wenn die Verantwortlichen bei der Stadt dann solch ein zweifelhaftes Umbetten vornehmen“, Dr. Walther. Denn – und das erzürnt ihn zusätzlich – das Umbetten ist nicht etwa einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen, sondern im Jahr 2020.“ Für den Historiker ist diese Vorgehensweise der Stadt Balingen „pietätlos, ignorant und eine Dummheit“. Zumal es bekannt gewesen sei, dass mit Elisabeth Renne, Helene Malherbe und Wasili Noviki drei NS-Opfer und mit Wilhelm Brüntgens und Johann Brunner zwei NS-Täter ins gemeinsame Grab umgebettet worden seien.

Die beiden Letztgenannten waren laut Dr. Walther Mitglieder der Organisation Todt, einer paramilitärischen Bautruppe im NS-Staat, die den Namen ihres Führers Fritz Todt (1891–1942) trug.

Wie der Internet-Homepage des Arbeitskreises Wüste zu entnehmen ist, war die Organisation Todt auch in Balingen und Umgebung aktiv. „Die OT war neben der Errichtung der KZ-Außenlager in Bisingen, Dormettingen und Dautmergen (die KZ-Außenlager in Erzingen, Frommern, Schömberg und Schörzingen existierten zu diesem Zeitpunkt schon) auch für den Aufbau der „Wüste“-Werke verantwortlich.“

Diesen Artikel teilen: