Balingen

Im Doppelpack schwer verdaulich: Schlucken die Balinger Räte die Netto-Kröte?

15.05.2020

Von Nicole Leukhardt

 Im Doppelpack schwer verdaulich: Schlucken die Balinger Räte die Netto-Kröte?

© Rosalinde Conzelmann

Der Discounter Netto möchte in Balingen und in Weilstetten Filialen eröffnen.

Die beiden Netto-Märkte, die in Weilstetten und in der Balinger Südstadt gegenüber von Bizerba entstehen könnten, spalten die Gemüter der Balinger Räte. Während der Standort Weilstetten begrüßt wird, ist ein Supermarkt außerhalb des Innenstadtkerns in der Wilhelm-Kraut-Straße für viele eine Kröte, die sie ungern schlucken möchten. Wir haben die Fraktionen nochmals um eine Stellungnahme gebeten.

Für die Sozialdemokraten im Balinger Ratsgremium ist die Sache klar. Weilstetten – keine Frage, aber in der Südstadt? „Wir alle wollen sicher, dass Weilstetten wieder einen Nahversorger bekommt.

SPD: Marktgutachten wäre ausgehebelt

Die Bedingung, die Netto aber stellt, nämlich die Kopplung beider Märkte aneinander, ist für uns ein erhebliches Problem“, sagt Fraktionssprecher Ulrich Teufel. Seine Begründung: „Würden wir zwischen Innenstadt und dem Gewerbegebiet Gehrn einen Nahversorger mit 800 Quadratmetern Verkaufsfläche zulassen, bräuchten wir für die südliche Innenstadt nicht einmal zu versuchen, einen Nahversorger zu finden. Das Marktgutachten wäre ausgehebelt.

Dieses Marktgutachten hat aber dafür gesorgt, dass während der letzten über 30 Jahre unsere Innenstadt ein vergleichsweise sehr interessanter, attraktiver Standort für den lokalen Einzelhandel geblieben ist.

Diesen Zustand wollen wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Dagegen steht eine Mietgarantie von Netto für beide Standorte auf 15 Jahre. Was diese wert ist, wird sich erst zeigen, wenn einer oder beide Standorte nicht den Umsatzerwartungen gerecht wird.“

FDP für beide Standorte

Anders sieht dies hingegen die FDP. Von den Liberalen gibt es ein klares Ja für beide Standorte. Doch auch in dieser Fraktion wird noch einmal darüber gesprochen. „Die FDP-Fraktion wird das Thema in ihrer Fraktionssitzung Anfang dieser Woche beraten – auf der Basis der Diskussion und der Informationen aus der Sitzung des Technischen Ausschusses (TA)“, sagt Dr. Dietmar Foth.

„Nach unseren bisherigen fraktionsinternen Diskussionen geht die Tendenz, soweit ich sehe, bei den anderen Mitgliedern der FDP-Fraktion klar in die Richtung, die auch meine persönliche Meinung ist und die ich in der TA-Sitzung schon geäußert habe. Beide Netto-Märkte wären ein Gewinn für Balingen, der eine für die südliche Kernstadt, der andere für Weilstetten“, betont Foth.

Keine negativen Auswirkungen für Einzelhandel

Und mehr noch: „Für Weilstetten ist es die große Chance, auf die lange gewartet werden musste. Die Zustimmung zu den beiden Netto-Märkten im Paket stellt keine Gefahr für den Fortbestand der Einzelhandelskonzeption der Stadt Balingen dar. Negative Auswirkungen für den Einzelhandel in der Innenstadt hätte dies nicht.

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Das Marktgutachten wollen wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Ulrich Teufel, SPD

Beide Netto-Märkte wären ein Gewinn für Balingen. Dr. Dietmar Foth, FDP

Wenn wir da draußen in der Südstadt einen Netto zulassen, dann sind die Weichen für die Innenstadt gestellt. Werner Jessen, Freie Wähler

Eine richtige oder die richtige Entscheidung zu fällen, ist schwierig und wahrscheinlich auch gar nicht möglich. Sevgi Turan, Bündnis90/Grüne

Um das erfolgreiche Balinger Modell beneiden uns viele Städte und Gemeinden in ganz Deutschland. Klaus Hahn, CDU

Dies haben auch der Sachverständige für die Einzelhandelskonzeption und Ortsvorsteher Wolfgang Schneider, Verwaltungsjurist, deren Einschätzung ich teile, in der TA-Sitzung klar geäußert.“

Foth plädiert eindringlich für die Zustimmung zum Netto-Doppelpack: „Die Chance muss aus meiner Sicht unbedingt ergriffen werden. Eine ‚Entkoppelung‘ der beiden Märkte ist nicht möglich. Es gibt nur das Gesamtpaket oder nichts.“

Freien Wähler sehen Kopplung kritisch

Für die Freien Wähler wiederum ist die Sache nicht ganz so klar. „Die Kopplung beider Märkte, die aus unserer Sicht die Verwaltung will, gefällt uns überhaupt nicht“, sagt Werner Jessen im Gespräch mit unserer Zeitung.

„Denn Weilstetten ist völlig anders zu bewerten als die Südstadt“, sagt er. Das große Versorgungsdefizit, das Weilstetten seit Jahren habe, sei offensichtlich. „Wenn nur diese Entscheidung anstehen würde, wäre das gar keine Frage, das ist unumstritten notwendig“, betont der Fraktionssprecher.

Der Markt in der Südstadt bereite seiner Fraktion indes Kopfzerbrechen. „Einige Aspekte sprechen dagegen“, erklärt Jessen, der über beide Märkte mit seiner Fraktion noch einmal diskutieren möchte. Durchaus kontrovers, wie er im Gespräch durchscheinen ließ. „Wenn wir da draußen in der Südstadt einen Netto zulassen, dann sind die Weichen für die Innenstadt gestellt“, so sein Argument.

Grüne ringen noch mit Entscheidung

Auch die Grünen hadern noch mit einer Entscheidung. Wie Fraktionssprecherin Sevgi Turan mitteilt, beschäftigen die geplanten Netto-Märkte die Fraktionen schon seit Monaten. Eine richtige oder die richtige Entscheidung zu fällen, sei schwierig und wahrscheinlich auch gar nicht möglich. Vor allem, weil es sich um ein Kombi-Arrangement handele.

Es zeichne sich daher ab, dass innerhalb der Fraktion wohl unterschiedlich abgestimmt werden wird. Was völlig demokratisch und möglich sei.

Viele Überlegungen

Man wolle Weilstetten einen Einkaufsmarkt zusprechen, der Standort sei gut. Die Grünen könnten sich aber eine zusätzliche Wohnbebauung des Grundstücks vorstellen, so wie es in Balingen geplant ist.

Man habe sich aber auch darüber Gedanken gemacht, was passiert, wenn der Markt nicht angenommen wird und fürchte eine Brache mitten im Ort. „Wie sind die Nutzungs-/ Verkaufsbedingungen zwischen der Volksbank Hohenzollern und Edeka?“, sei eine noch ungeklärte Frage.

Sorge äußern die Grünen, dass das Marktgutachten ein weiteres Mal ausgehebelt wird. Den Balinger Standort für den Netto und die Verkehrserschließung sehen sie nicht als optimal an und befürchten, dass damit die Bemühungen, einen Nahversorger für die Innenstadt zu bekommen, nicht fortgeführt werden.

Es würden neue Arbeitsplätze geschaffen

Als positiv bewertet die Fraktion die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die zeitgleiche Wohnbebauung würden den Bau attraktiver machen. „Wir fordern auf jeden Fall für beide Bauvorhaben – vorausgesetzt sie werden beschlossen – eine regenerative Stromgewinnung“, sagt Turan.

CDU hadert mit Kopplung

Die CDU betont, dass die Ansiedlung eines Lebensmittelmarktes im Zentrum von Weilstetten der gesamten Fraktion ein großes Anliegen ist. Es sei bedauerlich, dass dies trotz großer Anstrengungen bisher nicht gelungen sei.

Dass ein Lebensmittelmarkt nun einzig mit einer Koppelung realisiert werden soll, stelle über die Hälfte der Räte in der Fraktion vor eine schwierige Entscheidung, denn das aktuell fortgeschriebene Gutachten zur Balinger Einzelhandelskonzeption widerspreche der Ansiedlung eines Lebensmittelmarktes in der Wilhelm-Kraut-Straße in Balingen und stelle damit die Rechtssicherheit in Frage.

Marktgutachten bringt Erfolg

Seit über drei Jahrzehnten verkämpften sich die Stadtverwaltung und viele Gemeinderäte für die Einzelhandelskonzeption. Der Erfolg zeige sich mit einer sehr gut frequentierten Innenstadt.

Während in vielen Innenstädten im Land tote Hose herrsche, gebe es in Balingen nur wenig Leerstände, ein attraktives Einzelhandelsangebot und auch am Sonntag pulsiere das Leben. „Um dieses erfolgreiche Balinger Modell beneiden uns viele Städte und Gemeinden in ganz Deutschland“, ist sich die CDU sicher.

Die Diskussion sei noch nicht abgeschlossen. „Welche Kröte letztlich geschluckt werden muss, wird sich nach der Entscheidung des Gemeinderates zeigen“, betont Fraktionssprecher Klaus Hahn.

Kommentar: Netto gibt‘s nur brutto

Die Nachricht von einem möglichen Supermarkt im Ortskern ging wie ein Lauffeuer durch Weilstetten. Wäre sie Wochen zuvor publik geworden, hätte man sie wohl als Aprilscherz abgetan, so unglaublich klang die Kunde vom Lebensmittler, der nach Jahren der Nahversorgungsdiaspora endlich die klaffende Lücke füllen will.

Alles hätte so schön sein können, wäre da nicht ein Haken an der Geschichte: Alles oder nichts, heißt es, sprich, Weilstetten bekommt den Netto nur, wenn auch in der Südstadt einer gebaut werden darf. Ob dies nun Netto selbst oder die Stadtverwaltung so will – da herrschte unter den Räten Uneinigkeit.

Doch an eben jener Verquickung beider Standorte miteinander stören sich die Geister. Die Räte verweisen aufs Marktgutachten, nach dem der Südstadt-Netto geografisch zu weit aus der Innenstadt entfernt wäre. Aber mal ehrlich – die Innenstadt wurde in den letzten Jahren doch auch nicht von Lebensmittlern überrannt, die mit Eröffnung von Filialen gedroht hätten. Wo sollten, wo sollen sie auch hin? Wo einst noch Rewe war, im City-Center, ist heute – richtig, nichts mehr.

Das Marktgutachten mag der Innenstadt in vielen Punkten gut getan haben. Aber zur Nahversorgung hat es bisher nichts beigetragen. Wer in der nördlichen Innenstadt lebt, hat in der Albrechtstraße zwei Supermärkte. Der Süden aber geht leer aus. Und dort leben auch Menschen, die Hunger haben.

Geben Sie, Damen und Herren Gemeinderäte, sich einen Ruck und der vermeintlichen Kröte eine Chance. Manchmal bleibt netto ein Prinz übrig.

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