Balingen

Zwangsarbeiter in Balingen: Die Würde des Menschen war tagtäglich antastbar

16.09.2019

von Dr. Yvonne Arras / Dr. Michael Walther

Zwangsarbeiter in Balingen: Die Würde des Menschen war tagtäglich antastbar

© Privat/Stadtarchiv Balingen

Während der NS-Herrschaft diente dieses Gelände im Balinger Süden als Kriegsgefangenenlager. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die Franzosen die Anlage als Internierungslager. Im Hintergrund erkennt man die Balinger Stadtkirche, ganz rechts das alte Finanzamt.

Es waren Kriegsgefangene, es waren KZ-Häftlinge. „Zwangsarbeit in Balingen zwischen 1939 und 1945“ heißt ein Projekt, das die Mitstreiter des Arbeitskreises „Wüste“ und die Verantwortlichen des Stadtarchivs Balingen gestartet haben. Der ZOLLERN-ALB-KURIER wird in loser Folge über die Forschungen und deren Ergebnisse berichten.

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zählte Balingen neben den rund 5300 Einheimischen nochmals etwa 3000 ortsfremde Bürger. Das sind die offiziellen Zahlen. Sie gehen aus einer Liste hervor, die der Balinger Bürgermeister Kurt Friederichs im November des Jahres 1944 unterzeichnet hat.

Die Liste lag einem Schreiben an den Reichsverteidigungskommissar Wilhelm Murr bei. Darin monierte Friedrichs die „Überbelegung Balingens“ mit „Ausländern“. Die Einquartierung der „Zugezogenen“ habe einen Punkt erreicht, der „nicht mehr steigerungsfähig“ sei, stellte der Bürgermeister in dem genannten Brief an Wilhelm Murr fest.

Zahl ortsfremder Bürger ist unvollständig

Kurt Friedrichs differenziert in dem Schreiben verschiedene Gruppen an ortsfremden Personen. Zum einen nennt er „Ausländer, […] die nicht im Unternehmen ‚Wüste‘ eingesetzt sind“.

Zum anderen beziffert er die Anzahl an Rüstungsarbeitern, die aus anderen deutschen Städten beordert worden waren, um in der Waffenschmiede Mauser oder dem Elektronikkonzern Siemens & Halske zu arbeiten.

Und schließlich führt er „Evakuierte“ auf. Dabei handelt es sich um in Balingen einquartierte Kinder und Jugendliche aus kriegszerstörten Ballungszentren.

Zwangsarbeiter in Balingen: Die Würde des Menschen war tagtäglich antastbar

© Hauptstaatsarchiv Stuttgart E151/03 Bü 967

Von 1937 bis 1945 bekleidete Kurt Friederichs das Amt des Balinger Bürgermeisters. Von ihm stammt diese Liste „ortsfremder Balinger“.

Inzwischen weiß man: Die Zahl von 3000 ortsfremden Bürgern ist nicht vollständig. So fehlen in Bürgermeister Friedrichs Liste vom November 1944 nicht nur die Kriegsgefangenen.

Auch über die KZ-Häftlinge verliert das Stadtoberhaupt kein Wort. Zusammen mit den von Friedrichs so genannten „Ausländern“ gehören Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zu jener Bevölkerungsgruppe, die vor Ort Zwangsarbeit zu leisten hatten.

Zwangsarbeiter – ein Wort, viele Bedeutungen

Geschichtswissenschaftler verwenden den Ausdruck „Zwangsarbeiter“ als Oberbegriff für drei verschiedene Personengruppen. Eine Internetseite des Bundesarchivs, die über das System der Zwangsarbeiterschaft informiert, stellt diese Unterscheidung übersichtlich dar.

Demnach gab es zum einen ausländische Zivilarbeiter. Sie waren teils freiwillig, teils gezwungenermaßen ins Deutsche Reich gekommen, um dort zu arbeiten. Zu dieser Gruppe von Zwangsarbeitern gehören auch so genannte „Ostarbeiter“.

Aufenthaltsstatus wurde geändert

Die zweite Gruppe bilden die Kriegsgefangenen. Unter anderem aus Gründen der Rassenideologie des NS-Regimes war zunächst nicht vorgesehen, diese Menschen zur Zwangsarbeit zu verpflichten.

Dies gilt insbesondere in Bezug auf sowjetische Gefangene. Eine Änderung ihres Aufenthaltsstatus‘ ermöglichte dann aber, sie etwa in der deutschen Rüstungsindustrie zu verwenden.

Schonungslose Ausbeutung bis zum Tod

Neben ausländischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen zählen auch die KZ-Häftlinge zu den Zwangsarbeitern. In dieser Gruppe fanden sich auch viele Menschen jüdischen Glaubens.

Solche Lagerinsassinnen und -insassen kamen entweder in Konzentrationslagern ums Leben oder durch die schonungslose Ausbeutung ihrer Arbeitskraft.

Unterschiedliche Lebensbedigungen

Ein wichtiges Kriterium dafür, die drei Gruppen auseinanderzuhalten, ist der rechtliche Status dieser Menschen. Während etwa Kriegsgefangene immerhin den Schutz des sogenannten „Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen“ genossen, sah das NS-System für KZ-Häftlinge keinerlei Rechtsschutz vor.

Demgegenüber war der rechtliche Status von ausländischen Zivilarbeitern vor allem von ihrer Herkunft abhängig. So gab es zwar auch für diese Personen keine Möglichkeit, von der Zwangsarbeit entbunden zu werden.

Arbeiter westeuropäischer Nationalität erwartete aber meist deutlich bessere Lebensbedingungen, auch genossen sie eine gewisse Bewegungsfreiheit.

Im Gegensatz dazu standen die „Ostarbeiter“ hierarchisch auf der untersten Stufe. Soziale Isolation durch separate Behausungen und mangelhafte Verpflegung kennzeichnen ihr Schicksal.

Der rechtliche Status als distinktives Merkmal

Die tatsächliche Gesamtzahl dieser Zwangsarbeiter, die im Dritten Reich in Balingen angesiedelt waren, ist bis heute nicht ermittelt worden. Aus ein paar wenigen Schriftstücken – Brieffragmente und autobiografische Berichte – sind lediglich einzelne Namen von Zivilisten aus den Niederlanden oder der Ukraine bekannt, die in Balingen erzwungene Arbeit verrichteten.

Über die Lebens- und Wohnsituation dieser Menschen, deren soziale Schichtung oder wie ihre Be- und Überwachung organisiert war, weiß man bislang ebenso wenig wie über ihr Schicksal nach der Befreiung aus der Zwangsarbeit.

Selbst die Definition dessen, was man in Bezug auf Balingen eigentlich unter einem „Zwangsarbeiterlager“ zu verstehen hat, steht noch aus.

Forschung in Hechingen und Albstadt schon weiter

In anderen Städten im Zollernalbkreis ist das nationalsozialistische Zwangsarbeiterwesen weitaus besser erforscht.

Zur Situation in Hechingen zum Beispiel hat der Leiter der Hohenzollerischen Heimatbücherei, Rolf Vogt, bereits vor über 15 Jahren fundierte Studien angestellt.

Ähnliches gilt für Ebingen, wo dank des Pädagogen Wolfgang Lederer sogar schon seit 1998 Erkenntnisse über ausländische Arbeitskräfte im Dritten Reich vorliegen.

Raus aus dem Dunkel der Geschichte

Für Balingen hingegen betreiben der Arbeitskreis „Wüste“ und das Stadtarchiv mit dem Projekt „Zwangsarbeit in Balingen zwischen 1939 und 1945“ Grundlagenforschung.

Das Ziel des Projektes besteht darin, dieses Kapitel der Stadt aus dem Dunkel der Geschichte hervorzuholen. Das Projekt schöpft dabei aus schriftlichen Quellen, die teils im Balinger Stadtarchiv, teils im Staatsarchiv Sigmaringen aufbewahrt werden.

Geplant ist außerdem eine Auswertung von Luftbildaufnahmen der U.S. Air Force aus dem letzten Kriegsjahr. Diese Schwarz-Weiß-Fotografien stellte das Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung (LGL) in Stuttgart zur Verfügung.

Schrift-, Bild- und Tonmaterial gesucht

Die Überlieferung an Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg ist allerdings nicht vollständig. Daher suchen die Mitarbeiter des Stadtarchivs und die Mitglieder des Arbeitskreises „Wüste“ nach weiteren Belegen.

Es kann sich um Schrift-, Bild- und Tonmaterial handeln: Dokumente, Briefe, Tagebücher, Tonbandaufnahmen, Zeichnungen, Grafiken, Fotografien, die Hinweise auf die Praxis der Zwangsarbeit in Balingen geben, werden von den Projektverantwortlichen gerne in Augenschein genommen.

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