Balingen

Sexuell motiviert angefasst oder zufällig berührt – Lehrer steht vor dem Balinger Amtsgericht

23.04.2024

Von Nicole Leukhardt

Sexuell motiviert angefasst oder zufällig berührt – Lehrer steht vor dem Balinger Amtsgericht

© Pascal Tonnemacher

Der Prozess findet vor dem Amtsgericht in Balingen statt.

Was ist anfassen, was berühren? Das Balinger Amtsgericht befasst sich derzeit mit der Definition dieser beiden Begriffe: Einem Lehrer wird vorgeworfen, zwei Schülerinnen sexuell belästigt zu haben. Am zweiten Verhandlungstag wurden weitere Zeugen zu ihrer Sicht der Dinge, ihren Erinnerungen und Wahrnehmungen befragt.

Dass der angeklagte Pädagoge einen untadeligen Ruf unter Kollegen genießt, wurde am Dienstag im Lauf des Vormittags deutlich. Die damalige Klassenlehrerin der beiden Mädchen, die die Vorwürfe gegen ihren Lehrer erhoben haben, sprach von einem guten, „kollegialen, professionellen Miteinander“, von einem „geräuscharmen“ Verhältnis. Er wirke ins Kollegium hinein „sehr harmonisierend“.

Ernstgenommen ohne zu dramatisieren

Dennoch habe sie es durchaus ernstgenommen, als im Mai des vergangenen Jahres drei Schülerinnen am Rande des Unterrichts mit ihr das Gespräch gesucht hätten. „Sie haben mir gesagt, dass der Lehrer den Arm um ihre Schulter gelegt und sie dabei unsittlich berührt habe“, erinnerte sie sich.

+++ Jetzt kostenlos abonnieren: der ZAK-Whatsapp-Kanal +++

Allerdings hätte sie „nicht das Gefühl gehabt, es ist dramatisch, das hatte für mein Empfinden kein großes Eskalationspotenzial“, schilderte sie weiter. Sie habe daher die Mütter der drei Mädchen angeschrieben und um ein erstes Gespräch gebeten. „Als Klassenlehrerin habe ich mich zuständig gefühlt, ich hatte dabei eine Versachlichung des Ganzen im Sinn. Eine Option wäre ein runder Tisch mit Schulleitung und Lehrer gewesen“, bekräftigte sie auf Rückfrage des Staatsanwalts. Eine konkrete Handlungsanweisung für solche Fälle gebe es nicht, verneinte sie seine weitere Frage.

„Es kamen zwei Mütter und ein Vater, der offenbar erst kurz zuvor von den angeblichen Vorfällen erfahren hat und dementsprechend noch sehr emotionalisiert war“, berichtete die ehemalige Klassenlehrerin. So sei dieses Gespräch dann auch „sehr ungut verlaufen, es war von vornherein auf Eskalation ausgerichtet“, erzählte sie. Vor allem der Vater habe alles sofort an die Schulleitung herantragen und „es an die große Glocke hängen wollen“. Die Klassenlehrerin habe daraufhin die Schulleiterin informiert, die sich auch kümmern wollte.

„Es hat dann ein paar Tage gedauert, bis die Eltern sich an die Schulleiterin gewandt haben, zwischenzeitlich ruderten die Familien zum Teil zurück, mit jedem Tag wurde das Aufhebens darum geringer, nur eine der Familien hat das weiter befeuert“, schilderte sie. Die Mädchen an sich erlebe sie als selbstbewusste Kinder, die durchaus in der Lage seien, sich auszudrücken. „Im Gespräch mit mir waren sie nicht flapsig oder albern, aber auch nicht aufgeregt“, erzählte sie. Auch im Nachhinein habe sie die Mädchen als fröhlich wahrgenommen.

„Um das Mädchen herum war immer Drama“

Eines der beiden Mädchen, das an der Brust berührt worden sein soll, schilderte sie als „extrem unauffällig, sie hat immer funktioniert und performt, eine sehr gute, beherrschte, kommunikative Schülerin“, wie sie formulierte. Auch ihr Hobby sei leistungsorientiert gewesen, „der Druck war schon immer da. Aber die Mutter war auch immer in großer Sorge um sie“, ergänzte sie. Um das Mädchen herum „war irgendwie immer Drama“, so habe sich das Kind in der Schule unter den Mitschülern aber gar nicht dargestellt.

Ganz persönlich habe sie auch die Vorwürfe gegen den Kollegen „als unfassbar übertrieben empfunden, er war nur wenige Stunden in der Klasse, hätte im Unterricht nur wenige Berührungsmöglichkeiten gehabt. Die Beschuldigungen stehen für mich in keinem Verhältnis zu dem, was hätte passiert sein können.“ In einem persönlichen Gespräch mit ihm, einige Zeit später, habe sie gespürt, „dass er auch selbst versucht hat, die Genese von diesem Fall aufzurollen. Er hatte einen hohen Leidensdruck und hat sein Hirn gemartert, um herauszufinden, an welchem Punkt diese Geschichte stattgefunden hat. Aber er hat keine Antwort gefunden“, schloss sie. Bis heute sei der Vorfall zwar nicht mehr ständig Thema, jedoch „der Elefant im Raum“. Dass eine der betroffenen Schülerinnen jemand anderem gegenüber geäußert hätte, sie sei in Wirklichkeit gar nicht berührt worden, habe sie gehört, wisse aber nicht mehr, von wem.

Schilderungen unterschiedlich

Auch die Schulleiterin wusste nur Gutes von dem Angeklagten zu berichten. Sie schilderte das berufliche Verhältnis als sehr eng und gut, privat kenne sie ihn weniger. Sie nehme ihn als enorm hilfsbereit wahr. Als ihr die Vorwürfe zugetragen worden seien, habe sie das Regierungspräsidium darüber informiert und um Instruktionen für ihr weiteres Handeln gebeten. Im Beisein der Schulsozialarbeiterin habe sie die Mädchen – auf deren Wunsch hin gemeinsam – zu den Geschehnissen befragt. Da eines der Mädchen krank gewesen sei, habe sie die Mutter um eine schriftliche Stellungnahme des Kindes gebeten. Auch die übrigen Mädchen hätten ihr ihre Aussagen schriftlich übergeben. Auch sie habe die Mädchen gebeten, ihr zu demonstrieren, wie die Übergriffe abgelaufen seien. „Eine der Schülerinnen sagte, er habe hinter ihr gestanden, ihr etwas im Heft gezeigt und beim Zurücknehmen seiner Hand ihre Brust berührt und dabei ein-, zweimal von oben nach unten gestrichen. Sie sei daraufhin hellhörig geworden und habe in andere Klassen hineingehorcht, „aber da war nichts“.

Vater schneidet Telefonat mit

Mitbekommen allerdings habe sie, dass es unter den betroffenen Eltern Auseinandersetzungen gegeben habe. „Eine Mutter behauptete, die andere würde Falschinformationen verbreiten und sagte mir, sie distanziere sich davon“, schilderte die Schulleiterin. Sie habe den Eltern zugesichert, den Lehrer aus der Klasse zu nehmen für die restliche Schulzeit der Kinder. Ein Telefonat mit dem Vater der betroffenen Schülerin hatte sie ebenfalls noch in Erinnerung: „Ich empfand das als unverschämt, er hat von mir verlangt, dass ich den Lehrer entlasse, was ich gar nicht kann.“ Dass der Vater das Gespräch unerlaubterweise aufgezeichnet hat, ist Gegenstand eines anderen Verfahrens.

Glaubhaft sei für sie durchaus, dass es im Unterricht „zu Berührungen kommen kann“, dass es in diesem Fall mit sexuellen Absichten und zielgerichtet geschehen sei, „konnte ich mir nicht vorstellen“. Dass der Lehrer eine andere Schülerin während deren Vortrag beispielsweise an der Tafel von hinten im Stehen am Bauch umfasst und umarmt haben soll, ohne, dass es jemand in der Klasse bestätigen kann, „ist für mich zum Beispiel nicht so glaubhaft“.

Zumal der ermittelnde Kriminalbeamte schilderte, dass eben jene zu Protokoll gegebene Umarmung im Sitzen geschehen sein soll. Der Tenor der von ihm befragten Mädchen sei schon gewesen, „dass sie die Nähe des Lehrers nicht mochten“, wie er berichtete. Denn der Pädagoge habe sich den Schülerinnen stets von hinten genähert und ihnen über die Schulter hinüber ins Heft gezeigt. Eines der Mädchen habe ausgesagt, dass er seine Hand dabei auf ihre Schulter gelegt und sie von dort aus auf die Brust geschoben habe, eine andere sogar, dass seine Hand bei ihr dort kreisförmige Bewegungen vollzogen habe. Auf ihren Einwand, er solle das lassen, habe er sofort reagiert.

Zufall oder Absicht?

Er habe bei seiner Vernehmung auch herausgehört, dass sich die Mädchen zwischenzeitlich miteinander ausgetauscht hätten. Eine der beiden habe ihre Geschichte relativ flüssig vorgetragen, „man hat gemerkt, dass sie die Vorfälle nicht das erste Mal schildert“, fasste er zusammen. In seinem Schlussvermerk hatte er festgehalten, dass es unklar sei, ob die Berührungen Zufall oder Absicht gewesen seien, dass die kreisende Bewegung jedoch auf Absicht schließen lasse.

Die jüngste Zeugin schließlich hatte am längsten auf ihre Aussage warten müssen. Sie selbst sei nie von dem Lehrer an der Brust angefasst worden, er habe ihr jedoch ebenfalls von hinten den Arm beim Erklären über die Schulter gelegt. Von den Erzählungen ihrer Mitschülerin sei sie schockiert gewesen, „sie hat es oft erzählt, beschrieben, dass es ihr dabei nicht gut ging, das hätte ich auch unangenehm gefunden“, schilderte sie der Richterin.

Nebensitzerin bekommt nichts mit

Sie habe sich als direkte Nebensitzerin aber durchaus schon gewundert, „dass ich es nicht mitbekommen habe. Ich hätte es sehen müssen, wenn es so schlimm gewesen ist“, sagte sie. Auch dass die Freundin gesagt haben soll, „er soll das lassen, habe ich nicht gehört“. Dafür, dass eines der betroffenen Mädchen gesagt hat, er habe sie doch auch an der Brust berührt, fand sie eine Erklärung: „Ich glaube, sie wollte mich noch mehr da mit reinziehen und dass ich das auch sage, weil sie nicht alleine dastehen wollte.“ Warum eben jene Schülerin, die nach dem Vorfall die Schule verlassen hatte, den Kontakt mit ihr blockiert habe, wisse sie nicht.

Zwischen den Begriffen anfassen und berühren sehe sie jedenfalls keinen so großen Unterschied, erklärte sie der Richterin schließlich, die die junge Zeugin gebeten hatte, an ihr zu demonstrieren, wie der Arm des Lehrers über der Schulter lag. „Ich weiß nicht, ob er überhaupt bemerkt hat, wenn er mich berührt hat“, erklärte sie. Der neue Lehrer jedenfalls nähere sich den Schülerinnen ebenfalls von hinten, wie sie erzählte, „aber er bleibt dabei weit weg“. Auf Antrag des Verteidigers wird für den kommenden, letzten Prozesstag, die Nebensitzerin der anderen Seite geladen. Am Ende des Tages soll ein Urteil fallen.

Diesen Artikel teilen: