Zollernalbkreis

Rathauschefs im Zollernalbkreis wehren sich: der Appell an den Landesvater

29.10.2020

von Roland Müller/SWP

Rathauschefs im Zollernalbkreis wehren sich: der Appell an den Landesvater

© Volker Bitzer

Die Unterzeichner fordern: Unter anderem das Wirtschaftsleben der Gastronomie soll weiter ermöglicht werden (Symbolfoto).

Der geplante Teil-Lockdown stößt auf Widerstand bei den Städten in Baden-Württemberg: 35 Rathauschefs um Boris Palmer wehren sich in einem Appell an Winfried Kretschmann – darunter auch die Oberbürgermeister aus Albstadt und Balingen sowie die Bürgermeister aus Hechingen und Sigmaringen.

Der geplante Lockdown für Gastronomie, Kultur und öffentliches Leben stößt auch auf Unverständnis bei den Kommunen in Baden-Württemberg.

In einem Appell an Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) üben 35 Stadtoberhäupter um den Tübinger OB Boris Palmer (Grüne) Kritik an den am Mittwoch beschlossenen Corona-Maßnahmen – und fordern, im Südwesten Lockerungen, um den Rückhalt der Bürger für die Corona-Politik nicht zu verlieren.

Bürgermeister wehren sich kollektiv

Den Appell haben bisher (Stand 11 Uhr) insgesamt 35 Oberbürgermeister und Bürgermeister unterzeichnet, darunter auch die Oberbürgermeister aus Albstadt Klaus Konzelmann, aus Balingen Helmut Reitemann, die Bürgermeister aus Hechingen Philipp Hahn und aus Sigmaringen Marcus Ehm.

In dem Brief unter der Überschrift „Das Leben in den Städten schützen“ werden die beschlossenen Maßnahmen als wenig sinnvoll und willkürlich kritisiert.

Auswahlkriterien sind fraglich

„Wir fragen uns, nach welchen Kriterien die Bereiche ausgewählt wurden, die nun komplett geschlossen werden sollen“, heißt es in dem Schreiben.

Kultureinrichtungen wie Theater und Kinos sowie die Gastronomie und Hotellerie hätten gute Hygienekonzepte und seien als Treiber des Infektionsgeschehens von geringer Bedeutung.

Tempo kann so nicht gebremst werden

„Es ist für uns nicht ersichtlich, dass durch den kompletten Lockdown dieser Bereiche das Tempo der Pandemie ausreichend gebremst werden könnte“, heißt es im Schreiben weiter.

Offenbar sei die Politik der Meinung, dass diese „am ehesten verzichtbar“ seien. „Dieser Auffassung treten wir entgegen. Kunst, Kultur und Gastronomie machen das Leben in unseren Städten wesentlich aus. Sie einfach abzuschalten, gefährdet auf Dauer Bürgersinn, Zusammenhalt und Lebensgeist der Stadtgesellschaften“, steht im Schreiben weiter. Um die Pandemie zu besiegen, müsse man aber die Bürger mitnehmen.

Städtechefs trauen Befristung nicht

Zudem trauen die Oberbürgermeister und Bürgermeister der Zusage nicht, dass die Maßnahmen wie angekündigt nur befristet bis Ende November gelten sollen. Es sei zu befürchten, dass wegen mangelnder Effektivität der Maßnahmen der Teil-Lockdown „bis zum Frühjahr“ andauern werde.

Die zugesagten finanziellen Hilfen für betroffene Branchen allein reichten nicht aus, um die entstehenden „Strukturbrüche“ abzufedern – viele Betroffene würden durch den Lockdown zum Aufgeben gezwungen. „Was dadurch zerstört wird, ist auf lange Zeit nicht mehr wiederherzustellen.“

Keine abstrakten Verbote

Deshalb appellieren die Rathauschefs an Kretschmann, bei der Umsetzung der Beschlüsse in Landesrecht „von gänzlich abstrakten Verboten Abstand zu nehmen“.

So sollten Möglichkeiten geschaffen werden, Gastronomie mit Decken und Heizstrahlern im Freien zu ermöglichen und Ausstellungs- und Theaterbesuche unter strengsten Auflagen zu erlauben.

Der Appell der Oberbürgermeister im Wortlaut

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

Wir wissen, dass die Lage ernst ist und wir der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus entschieden entgegentreten müssen. Hierbei haben Sie wie in der Vergangenheit unsere volle Unterstützung.

Wir können aber nur erfolgreich sein, wenn wir auch die Bürgerinnen und Bürger vom Sinn der Maßnahmen überzeugen können. Das fällt uns bei den gestern in Berlin gefassten Beschlüssen schwer.

Wir fragen uns, nach welchen Kriterien die Bereiche ausgewählt wurden, die nun komplett geschlossen werden sollen. Theater, Oper, Kino, Gastronomie, Hotellerie und Cafes haben gute Hygienekonzepte etabliert und sind als Treiber des Infektionsgeschehens nach unserer Kenntnis von eher geringer Bedeutung. Es ist für uns nicht ersichtlich, dass durch den kompletten Lockdown dieser Bereiche das Tempo der Pandemie ausreichend gebremst werden könnte.

Es scheint, als liege der Auswahl der Schließungsbereiche die Annahme zugrunde, dass diese am ehesten entbehrlich seien. Dieser Auffassung treten wir entgegen. Kunst, Kultur und Gastronomie machen das Leben in unseren Städten wesentlich aus. Sie einfach abzuschalten, gefährdet auf Dauer Bürgersinn, Zusammenhalt und Lebensgeist der Stadtgesellschaften. Wir sehen die Gefahr, dass die Maßnahmen damit das gefährden, was wir zuallererst brauchen, um die Pandemie durchzustehen.

Das gilt um so mehr, als wir zwar lesen, dass die Schließungen bis zum Ende des Monats befristet sein sollen, darauf aber nicht vertrauen können. Im Gegenteil. Es ist zu befürchten, dass die Pandemie durch diese sektoralen Eingriffe so wenig gebremst wird, dass sie bis zum Frühjahr verlängert werden müssen.

Das hätte gravierende Strukturbrüche zur Folge. Allein mit Geld kann man Unternehmergeist, Kreativität und Leistungswillen nicht erhalten. Dauerhafte Abwertung und Untätigkeit wird viele zum Aufgeben treiben. Was dadurch zerstört wird, ist auf lange Zeit nicht mehr wiederherzustellen.

Aus diesem Grund bitten wir Sie, die Umsetzung der Beschlüsse in Landesrecht nochmals auf den Prüfstand zu stellen. Wir sind uns im Klaren, dass Baden-Württemberg keine völlig andere Linie fahren wird.

Aber wir hielten es für angemessen, dem Infektionsschutz bei der Definition der Maßnahmen einen höheren Stellenwert zu geben und von gänzlich abstrakten Verboten Abstand zu nehmen. Beispielsweise ist Gastronomie mit Decken oder Heizstrahlern an der frischen Luft nach unserer Meinung völlig unbedenklich.

Der Besuch einer Kunstausstellung oder einer Theatervorstellung kann durch weiter verschärfte Besucherzahlgrenzen, Masken und Abstände sicher gestaltet werden.

Wir bitten Sie diese Differenzierungen nochmals zu erwägen, bevor ein allzu pauschaler Lockdown angeordnet wird.

Mit freundlichen Grüßen

OB Richard Arnold, Schwäbisch Gmünd

OB Stefan Belz, Böblingen

OB Andreas Brand, Friedrichshafen

OB Michael Bulander, Mössingen

OB Ulrich Fiedler, Metzingen

OB Johannes Friedrich, Nürtingen

OB Bernd Häusler, Singen

OB Thomas Keck, Reutlingen

OB Matthias Klopfer, Schorndorf

OB Klaus Konzelmann, Albstadt

OB Michael Lang, Wangen im Allgäu

OB Julian Osswald, Freudenstadt

OB Boris Palmer, Tübingen

OB Helmut Reitemann, Balingen

OB Thilo Rentschler, Aalen

OB Michael Scharmann, Weinstadt

OB Norbert Zeidler, Biberach

BM Tobias Benz, Wyhlen

BM Marcus Ehm, Sigmaringen

BM Meike Folkerts, Titisee-Neustadt

BM Birgit Förster, Niefern-Öschelbronn

BM Janette Fuchs, Todtmoos

BM Philipp Hahn, Hechingen

BM Lisa Hengstler, Gütenbach

BM Franziska Kenntner, Mehrstetten

BM Dagmar Kuster, Hettingen

BM Diana Kunz, Zaberfeld

BM Petra Müller-Vogel, Gaiberg,

BM Daniela Paletta, Biberach (Baden)

BM Sarina Pfründer, Sulzberg

BM Sabine Schwaiger, Aglasterhausen

BM Antonia Walch, Sternenfels

BM Monica Wieland, Gutenberg-Hürben

BM Sybille Würfel, Maisch

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