Hechingen

Nudelsuppe zum Frühstück: Lebenshilfe bildet Menschen aus Vietnam in Heilerziehungspflege aus

29.02.2024

Von Julia Siedler

Nudelsuppe zum Frühstück: Lebenshilfe bildet Menschen aus Vietnam in Heilerziehungspflege aus

© Julia Siedler

Ein starkes Team: Isabell Burger, Thi Loan Nguyen und Andrea Schittenhelm von der Lebenshilfe (von links).

Ein Gespräch über Barrieren, schwäbische Pfefferbeißer und die Hoffnung auf künftige Fachkräfte.

Thi Loan Nguyen ist 38 Jahre alt und kommt aus Hanoi in Vietnam. Derzeit befindet sie sich sozusagen im Praxisjahr bei der Lebenshilfe Zollernalb in Sickingen, bevor sie im September ihre Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin anfangen kann. Ein Jahr einschlägige Erfahrungen sammeln – eine Voraussetzung für alle, die den fordernden Beruf erlernen wollen.

60 Monate auf ein Wiedersehen mit den eigenen Kindern warten

Während sie sich hier in der Sonnenstraße um Menschen mit Behinderungen kümmert und weiterhin Deutsch lernt, hat sie zuhause in Vietnam eine Tochter und einen Sohn, 9 und 7 Jahre alt, die bei ihrem Ex-Mann leben. In 60 Monaten – nicht 5 Jahren – kann sie ihre Kinder frühestens zu sich holen. 55 lange Monate bleiben also noch. Um den Antrag dann stellen zu können, braucht sie einen unbefristeten Arbeitsvertrag. „Wir versuchen, allen in Ausbildung später auch einen Arbeitsplatz anzubieten. Stand heute funktioniert das auch“, freut sich Andrea Schittenhelm, Wohnbereichsleiterin Zollernalb-Werkstätten. Bisher hält Nguyen über Facetime Kontakt zu ihren Kindern. „Jeden Tag“, sagt sie leise und blickt auf den Boden. Nguyen ist eine von 6 Frauen, die in der Lebenshilfe Sickingen arbeiten. In den gesamten Einrichtungen befinden sich mittlerweile 18 vietnamesische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; etwa 75 Prozent Frauen und 25 Prozent Männer, schätzt Schittenhelm. Nguyen ist mit ihren 38 Jahren eine der ältesten, „die meisten sind jedoch Anfang bis Mitte 20“, so Schittenhelm.

„Das ist moderner Menschenhandel!“

Schittenhelm, die zwei Mal für jeweils zwei Wochen mit nach Vietnam geflogen ist, erzählt: „Wie in allen Branchen wird es immer schwieriger, Personal zu finden.“ Dabei spreche sie noch nicht einmal von Fachpersonal. Die Arbeit „zu sogenannten ungünstigen Zeiten erschwert die Sache noch.“ Durch die Kooperation mit Vietnam habe die Lebenshilfe ihre Ausbildungsplätze gesichert, „für nächstes Jahr sind auch nur noch 2 von 10 Plätzen frei“. Dieses Jahr beende bereits die erste vietnamesische Mitarbeiterin ihre Ausbildung. „Über eine Recruiting-Firma in der Nähe von Karlsruhe sind wir in Kontakt gekommen mit dieser Idee.“ Aufgrund des Personalmangels sei man auch schnell begeistert gewesen, doch Schittenhelm überkam ein ungutes Gefühl. „Wegen der reinen Videokonferenzen dachte ich zuerst: Das ist moderner Menschenhandel!“

Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Deshalb entschied sie sich dazu, die Reisen nach Vietnam zu begleiten und sich selbst ein Bild vor Ort zu machen, die Bewerbungsgespräche zu führen und die Menschen persönlich kennenzulernen. Während der Corona-Zeit sei es „gruselig“ gewesen, die Menschen dort unbekannterweise einfach „einzuladen und hier her zu bringen“, sagt sie. Was war Nguyens Motivation, ihre Heimatstadt „zwischen den Flüssen“ zu verlassen? „Hier gibt es viel mehr Möglichkeiten für mich, zu arbeiten“, erklärt sie. Außerdem erhalte sie mehr Gehalt und hofft auf bessere Zukunftsperspektiven – für sie selbst, aber vor allem auch für ihre beiden Kinder. In Vietnam hätten die meisten Menschen 2 bis 3 Jobs, um überhaupt über die Runden zu kommen, berichtet Schittenhelm. Die Sickinger freut’s: „Es gab noch nie ein Problem zwischen den Mitarbeiterinnen und den Bewohnern, sie sind immer sehr positiv und bleiben höflich.“ Das Essen in Deutschland war für die Frauen anfangs allerdings nur eines: „Gruselig!“ Eine andere vietnamesische Kollegin habe „beinahe Panik bekommen, als ich Pfefferbeißer an die Bewohner verteilt habe“, lacht Isabell Burger, stellvertretende Hausleitung in Sickingen. „Das ist roh, das ist gefährlich“, habe sie gesagt – und darauf gepocht, die Pfefferbeißer abzukochen.

Gustatorische Gräben: Geschmäcker sind verschieden

Heute bringen die Frauen immer wieder Sommerrollen für die Kollegen mit zur Arbeit – aber mit einer extra Sauce. Die eigene sei „für Deutsche nicht gut“, würden sie dann sagen. Wegen des charakteristischen Geschmacks der Austernsauce. Was ist bisher Nguyens Lieblingsessen in Deutschland? „Wahrscheinlich Pizza“, lacht die 38-Jährige. Linsen mit Spätzle habe sie bisher noch nicht gegessen, aber „Gulasch mit Brot“, findet sie, weise einiges an Ähnlichkeit zu Bò Kho (sozusagen ein Rinderschmortopf) oder Bò Sôt Vang (Reisbandnudeln mit geschmortem Rindfleisch) auf. Beim dazu gereichten vietnamesischen Brot Bánh Mì handelt es sich tatsächlich um ein Baguette, das vermutlich aus der französischen Kolonialzeit stammt. Schittenhelm schwärmt besonders vom vietnamesischen Frühstück: Pho Bò, vietnamesische Nudelsuppe mit Rind, zusammen mit einem typisch vietnamesischen Eiskaffee. „Lecker!“, findet Schittenhelm, „das gibt Kraft!“, strahlt auch Nguyen.

Sprachbarriere Schwäbisch

Wie hoch ist die Sprachbarriere in Sickingen? „Das funktioniert sehr gut“, hält die Wohnbereichsleiterin fest. Die Frauen arbeiten in Vollzeit mit, „sowohl im pflegerischen, als auch im hauswirtschaftlichen Bereich“, führt Burger weiter aus. Sie verabreichen jedoch keine Medikamente und Spritzen. Allerdings könne man sie (noch) nicht als Vollzeitkräfte rechnen, da sie mit Sprachkursen, sonstigen Qualifizierungen und vielen Erklärungen zwar den ganzen Tag da, aber natürlich nicht den ganzen Tag voll verfügbar wären. „Wir rechnen mit 50 Prozent“, so Schittenhelm. Zur Sprachhürde komme auch noch das bei manchen Bewohnern „unheimlich breite Schwäbisch“ und eine verwaschene Aussprache hinzu. „Da kommt zur Sprachbarriere noch eine zweite dazu“, schmunzelt Schittenhelm. Auch andere Mitarbeiter, wie eine neue Kollegin aus Nordrhein-Westfalen, hätten da ihre Schwierigkeiten: „Sie spricht halt sehr Hochdeutsch“, lacht Burger.

Fachbegriffe, KI-Übersetzer und In-house-Sprachkurse

Auch mit den Fachbegriffen gehe es Quereinsteigern ähnlich, „das ist nicht anders“. Wenn nichts mehr hilft, leisten mittlerweile KI-Übersetzer den Mitarbeitern und Bewohnern gute Dienste. 2020 sei es mit den Übersetzern noch nicht so einfach gewesen, „da habe ich dann tatsächlich ein, zweimal in Vietnam bei einer Dolmetscherin angerufen“, erinnert sich Schittenhelm. Die Mitarbeiter kommen mit B1-Sprachleveln nach Deutschland. Bis zu Ausbildungsbeginn müssen sie B2 erreicht haben. „Gar nicht so einfach“, da es bekanntlich kaum freie Sprachkurse gibt. Die Lebenshilfe hat das Problem nun intern gelöst – gestern begann der Sprachkurs für alle, die im Oktober dazugekommen sind, im eigenen Schulungsraum. Zweimal die Woche für zwei Stunden; 16 Einheiten seien gebucht, diese könnten aber recht flexibel verlängert werden.

Öffentlicher Nahverkehr sorgt für Schwierigkeiten

Eine weitere Hürde ist auch der öffentliche Nahverkehr, obwohl die 6 Azubis eigentlich nur vom Hechinger Festplatz bis nach Sickingen kommen müssen. Doch Bus und Bahn fahren zu den meisten Zeiten weitläufig über Bodelshausen. Deshalb wurde der Beginn der Arbeitszeit nun von 6 Uhr auf 6.30 Uhr verlegt. Die Lebenshilfe will zeitnah für eine eigene Lösung sorgen: Alle Azubis sollen über die Dauer ihrer Ausbildung hinweg kostenfrei E-Bikes leihen können. Bis dahin fahren einige der Kolleginnen einen Umweg, um die Frauen nach Hause zu bringen. Die E-Bikes werden von der Lebenshilfe selbst und nicht über einen Drittanbieter bereitgestellt, erklären die Leiterinnen. Die neuen Mitarbeiterinnen finden sich trotz ihrer erschwerten Situation gut zurecht, wie es scheint. Einige davon begleiteten in ihrer Freizeit auch schon Kolleginnen mit zur Fasnet.

Fachkräfte der Zukunft

Wie stellt sich Loan, so ihr eigentlicher Rufname, ihre Zukunft vor? „Ich möchte in Hechingen bleiben, in Sickingen weiter arbeiten und meine Kinder nachholen, sobald es geht.“ Wie gefällt ihr die Arbeit bei der Lebenshilfe und was fällt ihr dabei schwer? „Nur Deutsch, nicht die Arbeit. Wenn ich die Bewohner verstehe, kann ich alles machen“, sagt sie. Sie scheint ihre Arbeit in Sickingen zu mögen, „die Mitarbeiter sind sehr nett und die Bewohner cool, finde ich“. Das Vietnam-Projekt soll noch auf unbestimmte Zeit weiterlaufen, Nguyen und ihre Kolleginnen fangen im September mit der Lehre an. „Das sind unsere Fachkräfte der Zukunft, sagt Schittenhelm.“ Bis sie ihre Kinder nachholen kann, bringt Thi Loan Nguyen ihren Kolleginnen und Kollegen bei, dass Pho Bo „viele, viele Zutaten“ habe; und nicht nur aus „Nudeln mit Wasser“ bestehe, wie sie bestimmt festhält. „Du musst hier mal Frühstück machen“, sind sich die beiden Leiterinnen einig.

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