Winterlingen

Manfred Mai über 75 Jahre Grundgesetz: Persönliche Erinnerungen eines Gleichaltrigen

23.05.2024

von Manfred Mai

Manfred Mai über 75 Jahre Grundgesetz: Persönliche Erinnerungen eines Gleichaltrigen

© picture alliance/dpa

Das Grundgesetz feiert dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Es wurde am 23. Mai 1949 erlassen.

Der Winterlinger Autor Manfred Mai ist fast genau auf den Tag so alt wie das Grundgesetz. In einem Gastbeitrag für den ZAK erinnert Manfred Mai daran, welche Bedeutung das Fundament unserer Demokratie hat und verrät, warum er den Vätern und Müttern des Grundgesetzes dankbar ist.

Als ich am 15. Mai 1949 geboren wurde, gab es noch keinen deutschen Staat. Winterlingen gehörte damals zum provisorischen Bundesland Württemberg-Hohenzollern und das wiederum zur französischen Besatzungszone. Wer genau das Sagen hatte und welches Recht galt, war nicht so klar. Aber schon acht Tage später wurde es klarer, denn am 23. Mai wurde das Grundgesetz verkündet und damit ein neuer Staat gegründet, die Bundesrepublik Deutschland.

Dankbar für die Arbeit

Den Frauen und Männern, die es geschaffen haben, bin ich noch heute dankbar für ihre Arbeit. Mit dem Grundgesetz haben sie für unseren Staat ein Fundament gebaut, auf dem er bis heute sicher steht.

Grundrechte an erster Stelle

Nach den Erfahrungen in der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, stellten sie die Grundrechte an die erste Stelle. Unser Grundgesetz beginnt mit den schönen Sätzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Vor dem Staat kommt also der Mensch, jeder Einzelne von uns. Und der Staat ist für die Menschen da, er muss dafür sorgen, dass sie Mensch sein können, er ist also letztlich nur ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst.

Bürger als Bittsteller?

Davon habe ich als Junge natürlich noch nichts gewusst. Und ich habe es auch anders erlebt. Einmal ging ich mit meiner Mutter aufs Rathaus. Beim Betreten des Raumes hat sie sich verbeugt, wie das Untergebene zu tun pflegten. Und der Beamte ließ sich Zeit, bis er sie „abfertigte“, wie es damals hieß. Für mich war also klar: Er steht über uns, und meine Mutter ist die Bittstellerin.

Manfred Mai über 75 Jahre Grundgesetz: Persönliche Erinnerungen eines Gleichaltrigen

© Holger Much

Der Winterlinger Autor Manfred Mai feierte am 15. Mai seinen 75 Geburtstag – womit er (fast) gleich alt ist wie das Grundgesetz.

So war es von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht gedacht. Sie wollten es anders, denn sie alle hatten ja die Nazi-Diktatur erlebt und überlebt. Dort galt bekanntlich der Leitspruch „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Dieses Denken sollte es im neuen Deutschland nicht mehr geben. Nicht Volk und Staat sollten an erster Stelle stehen, sondern die Menschen. Deswegen wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Staat sozusagen an die Kette legen, an die Kette der Menschen- und Grundrechte.

Jeder Mensch hat Rechte

Der nächste Satz lautet: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft ...“ Diese Rechte hat jeder Mensch von Natur aus. Er bekommt sie also nicht von jemandem, und deswegen kann sie ihm auch niemand nehmen. Manche Leute, die schon im Dritten Reich das Sagen hatten, brauchten einige Zeit, bis dieses Denken auch bei ihnen ankam – so war es auch bei dem Beamten im Rathaus.

Menschenrechte sind nicht von der Herkunft abhängig, sie haben auch kein Geschlecht, keine Hautfarbe und keine Religion. Jeder Mensch hat sie, egal wo er herkommt, was er glaubt oder denkt. So beginnt das Grundgesetz, damit in Deutschland niemals mehr Menschen verfolgt und getötet werden dürfen, die anders denken, glauben und leben als eine Gruppe, eine Partei oder staatliche Organe es haben wollen.

Für Artikel 1 gilt die Ewigkeitsklausel

Für Artikel 1 des Grundgesetzes gilt die sogenannte „Ewigkeitsklausel“, das heißt, er darf nicht geändert oder gar abgeschafft werden. Das gilt außer für ihn nur noch für den Artikel 20, der unter anderem besagt, dass unser Staat eine Demokratie ist: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es da. Wieder stehen die Menschen, diesmal als gesamtes Volk, an erster Stelle.

Vertreter in staatlichen Gremien

Und weil ein so großes Volk sich nicht versammeln und seine Angelegenheiten selbst regeln kann (wie in einer direkten Demokratie), wählt es Vertreter in die verschiedenen staatlichen Organe. Deren Aufgabe ist es, im Sinne und zum Wohle des Volkes zu handeln. Genaugenommen haben auch sie also eine dienende Funktion. So war es zumindest vor 75 Jahren gedacht. Nur scheinen manchen Vertreter das nicht zu wissen oder nach ihrer Wahl zu vergessen.

Diener des Staates

Ein Bundesminister sagte einmal, man könne nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen. Das verlangt auch niemand. Aber alle gewählten Vertreter sollten wissen, was drin steht und sich entsprechend verhalten. Und sie sollten stets bedenken, dass sie nicht die Herren im Staat sind, sondern die ersten Diener des Staates – wie es schon Friedrich der Große formuliert hat.

Dass wir in einer Demokratie lebten, davon habe ich als Junge nichts gemerkt. In den meisten Familien herrschten die Männer, bei uns waren das mein Großvater und mein Vater. Die Frauen hatten nicht viel zu sagen – obwohl es schon in Artikel 3 heißt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

Mehr Demokratie wagen

Und auch im Staat war es mit der Demokratie anfangs nicht so weit her. Dort regierte Bundeskanzler Adenauer in einer Art und Weise, dass man bald von einer „Kanzlerdemokratie“ sprach. Im Alter von 19 Jahren spürte ich zum ersten Mal das Grundgesetz persönlich in Form von Artikel 12a: „Männer können vom achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften … verpflichtet werden.“

Ich musste für 18 Monate „zum Bund“, wo das Prinzip von Befehl und Gehorsam galt. Vielleicht fielen die Worte des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt im Oktober 1969 bei mir deshalb auf besonders fruchtbaren Boden: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Neuanfang nach dem „Bund“

Das wollte ich auch und habe nach „dem Bund“ noch mal ganz neu angefangen. Ich habe unter anderem Politikwissenschaft studiert, auch um das Grundgesetz und die Politik besser zu verstehen.

Was haben die Väter und Mütter gewollt?

Nun hat sich in den vergangenen 75 Jahren neben der Verfassungsnorm eine Verfassungswirklichkeit entwickelt, die nicht immer dem entspricht, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes gemeint und gewollt haben. So legt zum Beispiel das Prinzip der Gewaltenteilung fest, dass das Parlament die Gesetze „macht“ und die Regierung sie ausführt. Formal wird das auch so praktiziert.

In Wirklichkeit werden die meisten Gesetze von der Regierung „gemacht“, und dann von der sie tragenden Mehrheit im Bundestag beschlossen – mit mehr oder (meistens) weniger Änderungen. Da die Mitglieder der Regierung normalerweise auch Mitglieder im Bundestag sind, ist das Gewaltenteilungsprinzip in diesem Punkt zumindest nicht zu 100 Prozent umgesetzt.

Regierung ist zentrales Organ

Die Regierung mit ihren tausenden Beamten im Kanzleramt und in den Ministerien ist also zum zentralen Organ des Staates geworden. Das alles und auch andere „Missstände“ konnte und kann man in unserem Land kritisieren und das darf man nach Artikel 5 auch, wo es unter anderem heißt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten …

Eine Zensur findet nicht statt.“

Kritik ist erwünscht

Weil die Meinungs- und Pressefreiheit ein wichtiges Element der Demokratie ist, haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes das hineingeschrieben. Kritik ist also nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Sie ist auch notwendig, um auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Doch die Kritik darf nicht so weit gehen, Wesenselemente des Grundgesetzes, einzelne Staatsorgane oder den ganzen Staat abschaffen zu wollen.

Lehren gezogen

Auch hier haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Lehren aus dem Untergang der Weimarer Republik gezogen. Damals konnten die Feinde des Staates praktisch ungehindert und formal im Rahmen der Gesetze die Demokratie abschaffen und eine Einparteiendiktatur errichten. Das sollte nicht mehr möglich sein, das Grundgesetz will eine wehrhafte Demokratie nach dem Grundgedanken „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“.

Bürgerinnen und Bürger sind gefragt

Mehr noch, nicht nur der Staat soll sich gegen seine Feinde wehren können, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger. Deswegen heißt es in Artikel 20: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Gerade in einer Zeit, in der manche Staaten die Rechte ihrer Bürger einschränken und autokratische Züge annehmen, sind auch in unserem Land wachsame Bürgerinnen und Bürger wichtig, die sich für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einsetzen.

Dass es davon immer genug geben wird, das wünsche ich mir für meine Kinder und Enkelkinder und für alle Menschen unseres Landes.

Diesen Artikel teilen: