Balingen

„Ich war fast tot“: Rollstuhlfahrer Stefan Rimmele spricht auf der Balinger Gartenschau

01.06.2023

Von Rosalinde Conzelmann

„Ich war fast tot“: Rollstuhlfahrer Stefan Rimmele spricht auf der Balinger Gartenschau

© Rosalinde Conzelmann

Das waren noch unbeschwerte Tage: Stefan Rimmele zeigt das letzte Faschingsfoto vor dem tragischen Unfall.

Er ist in Balingen kein Unbekannter: Stefan Rimmele. Der Allgäuer, der seit 28 Jahren im Rollstuhl sitzt, hat als Messeleiter die Balinger Gesundheitstage organisiert. Viele Male. Jetzt sprach Rimmele auf der Plazabühne der Gartenschau, als Gast der Selbsthilfegruppe Schädel-Hirnpatienten (SHG), über die wir im Rahmen unser Vorstellung der Selbsthilfegruppen am Beispiel des Schicksals von Rimmele berichten. Schonungslos offen, aber auch mutmachend und humorvoll berichtete er, warum er trotz seiner Behinderung nie aufgegeben hat und das Leben liebt.

Elfriede Adler-Merbach, die die Selbsthilfegruppe 2015 gegründet hat, begrüßte die Zuhörer, darunter auch zwei Stomaträger und die Therapeutinnen der Selbsthilfegruppe. Adler-Merbach äußerte den Wunsch, „dass Fachpflegepersonal gemeinsam mit uns und den Angehörigen das Bestmögliche für die Betroffenen erzielen möchte“.

„Sehnsucht leben“

„Sehnsucht leben – die Frage ist nicht ob, sondern wie“, so lautet der Titel von Rimmeles Vortrag, der mit idyllischen Bildern beginnt, als Rimmele seine unbeschwerte Kindheit als Sohn eines Landwirts im Allgäu beschreibt.

4 Wochen in Lebensgefahr

Dann kommt der Tag, der sein Leben radikal verändert: Am 27. Juli 1995 ist der 13-Jährige mit seinem Bruder auf dem Weg zu einem Badesee, als ein 86-jähriger, angetrunkener Autofahrer „ums Eck kommt und mich wegrasiert“, wie Rimmele drastisch schildert. „Ich war fast tot.“ Der Teenager schwebt 4 Wochen in akuter Lebensgefahr.

Der „Grunzer der Erlösung“

Er hört ein Gespräch seiner Eltern mit dem Arzt an. Dieser sagt, dass, sollte in nächster Zeit keine Reaktion erfolgen, nur das Pflegeheim Liebenau als Endstation bleiben wird. „Was meinen Sie, was da abgeht im Kopf eines 13-Jährigen“, sagt Rimmele. Zwei Wochen später gibt er beim Besuch seiner Geschwister einen Laut von sich. Er spricht vom „Grunzer der Erlösung“.

„Ich war fast tot“: Rollstuhlfahrer Stefan Rimmele spricht auf der Balinger Gartenschau

© Rosalinde Conzelmann

Über die Auf und Abs in seinem Leben berichtete Stefan Rimmele auf der Plazabühne der Gartenschau.

Es folgen viele Monate in Reha-Einrichtung, in denen er wieder lernen muss, zu reden, zu kauen und zu schlucken. Sogar in die Ukraine zu einem Professor, der als Wunderheiler gilt, reisen die Eltern, um ihrem Sohn zu helfen. Und sein Vater kauft ein Pferd, das allerdings zu stürmisch ist und wieder wegkommt. „Vermutlich ins Schlachthaus. Landwirte sind da nicht zimperlich“, sagt Rimmele im schönsten Allgaier Dialekt.

Er wird Bürokaufmann

Stefan Rimmele geht nach dem letzten viermonatigen stationären Aufenthalt in einer orthopädischen Klinik wieder in die Schule. Er schließt die Wirtschaftsschule ab und möchte Arbeitsvermittler werden. Er erhält noch in der Probezeit seine Kündigung. Es schließt sich eine Ausbildung zum Bürokaufmann an. „Ich war der einzige Mehrfachbehinderte in der Klasse“, erzählt er.

Danach ist er arbeitslos. Erst als die Lokalpresse über ihn berichtet, bekommt er eine Chance, einen Job bei einem Bauunternehmer. Dort geht es zuweilen derb zu. Die Zuhörer lachen, als Rimmele, der sich selbst als Rollifahrer oder Spacko bezeichnet, von den Wutausbrüchen seines damaligen Chefs berichtet.

Unternehmer übernimmt Kosten

Er ist nach einem Jahr wieder arbeitslos, möchte zum Veranstaltungskaufmann umschulen. Das kostet 10.000 Euro. Die Zahlung verweigert ihm die Behörde. Der Messechef Peter Schweinberg – „meine Lichtgestalt“ – übernimmt die Kosten. Rimmele enttäuscht ihn nicht. Er macht seinen Abschluss und bekommt den Job als Messeleiter. „Als Erster und Einziger im Rollstuhl“. Apropos Kosten. „Was ist ein Leben wert?“, richtet er diese Frage ans Publikum. Die Antwort: „Die Versicherung hat 40.000 DM bezahlt.“

„Ich war fast tot“: Rollstuhlfahrer Stefan Rimmele spricht auf der Balinger Gartenschau

© Rosalinde Conzelmann

Auf seine Freunde kann sich der Allgäuer verlassen: Sie haben ihn auf einen 2238 Meter hohen Berg getragen.

Stefan Rimmele organisiert 2009 die ersten Balinger Gesundheitstage als „Eventroller“. 2009 wird er erwachsen, wie er schmunzelnd sagt. Er zieht zuhause aus, kauft eine Wohnung. Die ist heute abbezahlt. Darauf ist er stolz wie Bolle. Er erhält nach 2,5 Jahren die Kündigung, weil es der Firma schlechter geht und fällt in eine Depression. Es ist der Dalai Lama, der ihm, wie schon oft, den Weg zeigt. „Glück bedeutet für mich, ich selbst zu sein“, fasst er es in Worte.

4 Wochen alleine durch die Staaten

Das Steh-auf-Männchen fliegt nach New York, reist 4 Wochen lang ohne Begleitung durch die Staaten und legt 26.900 Kilometer zurück. Er kehrt selbstbewusst zurück, schreibt wieder 140 Bewerbungen, erhält eine Zusage bei der Telekom. Dort arbeitet er über 4 Jahre.

Danach erhält er einen Minijob beim Allgäu-Eventzentrum, bewährt sich, arbeitet sich nach oben. Er organisiert dort unter anderem die Gesundheitstage in Balingen und Albstadt, die Messe Neckar-Alb regenerativ oder die Immobilientage in Balingen.

„Ich habe ein Rad ab“

Weil er ein Rad ab hat, wie er selbst sagt, wagt er im Sommer 2012 das Abenteuer „RadUp“. Er „wandert“ mit Hilfe seiner Freunde auf einen 2238 Meter hohen Berg. Zum Teil wird er getragen. Und: „Ich bin 110 Meter auf eigenen Füßen den Berg hoch.“ Eine Leistung, die dank seiner Freunde, die ihn abstützen, unglaublich ist.

Seine Zielstrebigkeit, sein Ehrgeiz und sein Humor sind Rimmeles Lebenselixier. Er ist ein Kämpfer und ein Realist. Wie aber schafft er es, sich immer wieder zu motivieren? „Ich bin es mir selbst wert; ich bin meiner selbst bewusst; ich habe Erfolge, mit dem, was ich anpacke; die Regie in meinem Leben führe ich; der wichtigste Mensch in meinem Leben bin ich“ , formuliert er diese 5 Leitsätze.


Er möchte Hilfsprojekte initiieren

Stefan Rimmele hat 2023 die letzten Gesundheitstage organisiert, ab September wird er als Reha-Fachberater in einem Sanitätshaus in Kempten arbeiten. Dort möchte er Hilfsprojekte in die Wege leiten. „Sie werden aber wieder von mir hören“, verspricht er augenzwinkernd.

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