Balingen

Kein Weihnachten für Nikodem – Wie sich ein Wohnungsloser kurz vor den Feiertagen fühlt

22.12.2023

Von Milijana Magarewitsch

Kein Weihnachten für Nikodem – Wie sich ein Wohnungsloser kurz vor den Feiertagen fühlt

© Milijana Magarewitsch

Heiligabend und die Weihnachtsfeiertage sind für den wohnungslosen Nikodem nichts Besonderes. Eigentlich sind sie sogar noch schlimmer, denn so gut wie nichts hat offen, wo er sich einen Moment lang aufwärmen könnte.

Wie fühlt es sich an, obdachlos zu sein? Und lässt sich das überhaupt nachvollziehen? Unsere Redakteurin hat einen Wohnunglosen über einige Tage hinweg begleitet und mit ihm gesprochen. „Kein Mitleid, bitte“, sagt er.

Nikodem, Nik, wie ihn seine Freunde nennen, kommt aus einer kleinen Stadt in Polen in Grenznähe zur Ukraine. Er ist 37 Jahre alt, mag Fußball, war schon mal verheiratet, ist glücklich geschieden (wie er selbst sagt), hat eine Tochter, Justyna, mag Hunde, aber keine Katzen und hat Schlosser gelernt. „Cholera!“, ruft er immer wieder aus, was zu Deutsch „Donnerwetter“ oder auch „verflixt“ bedeutet. Nik ist blond, hat hellbraune Augen und ein wirklich schönes Lächeln. Man könnte ihn vielleicht als Typ „Surferboy“ beschreiben. Er trägt sogar eine gefälschte Gucci-Tasche, was fast schon ironisch wirkt in Anbetracht dessen, wo sich Nik befindet: nämlich ganz unten. Nik lebt auf der Straße. Seit vier Monaten etwa – und er wird es auch an Weihnachten tun.

Blauäugig und unvernünftig

„Ich bin wegen der Arbeit nach Deutschland gekommen“: Das erzählt mir Nik während unseres ersten offiziellen Treffens. Angesprochen habe ich Nik einfach so. Ich sah ihn am Bahnhof in Balingen auf den Stühlen sitzen. Umringt von Einkaufstüten, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten.

Von Discountern und Möbelhäusern, die sich Nik nicht leisten kann, vollgepackt mit Dingen, die er zum Überleben auf der Straße benötigt. Ja, ich war mir dessen sofort bewusst, um wen es sich da handelt – es war nun mal so. Die „Zeichen“ waren eindeutig. Ob er Lust hätte, mir ein wenig von sich zu erzählen? Er ist misstrauisch, warum sollte jemand etwas über ihn wissen, geschweige denn, schreiben wollen? Ich erzähle ihm von meiner polnischen Schwiegerfamilie, packe meine drei, vier kläglichen Brocken Polnisch aus und wir lachen. Das Eis ist fürs Erste gebrochen.

Dem Alkohol zugetan

Nik bringt die „klassische“ Straßenkarriere mit. Er liebt den Wodka schon immer etwas mehr als ihm guttut, doch mit Arbeit und Familie als täglichen Verpflichtungen lässt sich das gut kaschieren. Dann verlässt ihn seine Frau für den besten Freund (Cholera!), nimmt die geliebte Tochter mit und entfremdet ihm diese stetig, sagt er zumindest.

In Deutschland, so hört er, werden Handwerker händeringend gesucht. Einen Schlosser könne man dort gut gebrauchen. Und Deutsch hatte er in der Schule gelernt und von der Oma aus Wuppertal auch.

Etwas blauäugig macht er sich auf in das „Gelobte Land“, kommt erst in Stuttgart bei Freunden unter, belegt die Couch, trinkt, fliegt raus. „Ich hatte immer Ärger mit diesen Leuten, sie waren nicht gut zu mir“. Laienpsychologisch betrachtet, scheint sich Nik schon fast zu wohl in seiner Opferrolle zu fühlen.

Frau böse, Freunde böse, alle und alles böse. Nur der Wodka ist nicht böse und versteht ihn. Er macht sich ziellos mit dem Zug ins Umland auf, fährt hierhin und dorthin, lernt Menschen auf der Straße kennen, hängt mit ihnen ab, bleibt, geht, streitet sich.

Trinkt nicht jeder Mensch, fragt Nikodem

Und er lernt auch die Drogen auf der Straße kennen. „Aber Drogen sind nicht gut, die nehmen nur schlechte Menschen“. Auch für Nikodem gibt es noch etwas „unter ihm“. Wodka sei in Ordnung, denn „jeder Mensch trinkt“, ist er der festen Überzeugung. Und mit einer Droge nicht zu vergleichen. Einen Job findet er nicht, wie denn auch. Kein fester Wohnsitz, keine Arbeit.

Und dass er zum Amt gehen kann, hört er nun zum ersten Mal. Sagt er zumindest. Glauben kann ich es nicht so ganz. Er lebt also buchstäblich von der Hand in den Mund oder von Fusel zu Fusel. Ich bemerke schnell, dass ich leider zu belehrend wirke und merke genauso schnell, wie sich Nik zurückzieht. Ich lasse mein „willst du nicht doch vielleicht“ oder mein „wie wäre es denn“ schnell bleiben. Zu begreifen, dass man jemandem in Niks Situation nicht die Intelligenz absprechen soll, ist schwer. Für mich ohnehin. Helfen bedeutet aber loszulassen.

Pfandflaschen sind wie Bares

Er fragt mich, ob ich ihm meine Pfandflasche dalassen kann, ich stimme zu. „Weißt du, das ist wie Geld.“ Mir gefällt die pragmatische Denke, so Unrecht hat er gar nicht. Und in einer Konsumgesellschaft, die buchstäblich alles wegwirft, ist „Flasche mitnehmen, statt auf die 25 Cent zu pfeifen“ gar keine so schlechte Idee.

Ob er mir wohl zeigen würde, wo er nächtigt?

Nein, sagt Nik. Das möchte er nicht. Er will nicht, dass andere wissen, wo er sich des Nachts aufhält. Mein Gefühl sagt mir, dass es eher um Scham und um Würde geht, deshalb akzeptiere ich sein Nein. Das zweite Nein zu akzeptieren, fällt mir da schon deutlich schwerer. Ob ich ihn beim Betteln begleiten dürfte? Auch das möchte er nicht. Meine Gedanken kreisen um das verpasste Fotomaterial zum Artikel, und ich bin wütend auf mich selbst, weil mich das überhaupt beschäftigt.

Früher war doch vieles schöner

Weihnachten stände doch bald an, was hätte er denn für Pläne? Und beim Aussprechen des Wortes „Pläne“ komme ich mir so dämlich wie selten zuvor vor. Als ob es Nik geahnt hätte, grinst er und sagt: „Ich gehe mit Krawatte ins Restaurant.“

Doch die leisen Töne bleiben nicht aus. Früher, in Polen, da wäre Weihnachten wunderschön gewesen. Mit den ganzen Bräuchen, dem Essen und der Familie. In solchen Momenten vermisse er seine Tochter sehr. Und manchmal sogar seine Ex-Frau, obwohl die eine echte Enttäuschung gewesen sei. Ob er denn noch Kontakt hätte zu den Angehörigen? Vor allem zur Tochter? „Nie“, sagt er, nein. Niemand solle wissen, wo er sich gerade aufhielte. „Aber du brauchst kein Mitleid zu haben, ich bin selbst schuld“. Sagt er und nimmt einen Schluck aus der Wodkaflasche. Denn der Wodka versteht ihn. Auch und vor allem an Weihnachten.

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