Zollernalbkreis

75 Jahre KZ-Befreiung: Im April 1945 beenden französische Truppen das unvorstellbare Leid

19.04.2020

von Dr. Andreas Zekorn

75 Jahre KZ-Befreiung: Im April 1945 beenden französische Truppen das unvorstellbare Leid

© Anatol Girs

Der polnische Schriftsteller Tadeusz Borowski (1922 – 1951) war Häftling im KZ Dautmergen. Im April 1945 wurde er mit dem Zug nach Dachau-Allach abtransportiert. Das Foto zeigt ihn nach der Befreiung in München.

Das Martyrium war endlich zu Ende: Die Befreiung der KZ-Häftlinge der „Wüste“-Lager jährt sich 2020 zum 75. Mal. Bei den Transporten und Todesmärschen waren zuvor zahlreiche Menschen ums Leben gekommen.

Vor 75 Jahren, im April 1945, wurden die „Wüste“-Lager, die als Außenlager zum KZ Natzweiler-Struthof gehörten, in unserem Raum mittels Bahntransporten und Todesmärschen geräumt. Es waren sieben Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, die zuletzt 1945 in Bisingen, Dautmergen, Dormettingen, Erzingen, Frommern, Schömberg und Schörzingen existierten.

Bekannt ist das aberwitzige Projekt nationalsozialistischer Verblendung unter dem Tarnnamen „Wüste“ und dem Ziel, Schieferöl zur Deckung des ungeheuren Mineralölbedarfs des deutschen Kriegsapparates zu gewinnen und bei dem in kaum nennenswertem Umfang Öl produziert wurde.

Aus 96 Tonnen Gestein wurde eine Tonne kaum verwertbares Öl gewonnen. Dafür kostete das Unterfangen unzählige Menschenleben. Und die für dieses Projekt eingesetzten KZ-Häftlinge aus ganz Europa waren unsäglichen Bedingungen ausgesetzt.

Räumung in mehreren Schritten

Die Räumung der hiesigen Konzentrationslager erfolgte in mehreren Schritten: Als erstes waren die norwegischen und anderen skandinavischen KZ-Häftlinge aufgrund der Rettungsaktion Graf Folke Bernadottes, des Präsidenten des schwedischen Roten Kreuzes, im März 1945 aus der Hölle der „Wüste“-Lager entlassen worden.

Die nächste Phase der Räumung, der Abtransport von Häftlingen mittels Bahntransporten Anfang April 1945, ging auf Überlegungen zurück, die Häftlinge durch Zivilarbeiter zu ersetzen, um die Schieferölproduktion endlich „gewinnbringend“ zu gestalten. Diese Transporte standen damit gar nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der späteren Räumung der „Wüste“-Lager wegen des Vorrückens der französischen Truppen.

Der Entschluss fiel Ende März 1945 im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in Berlin. In wahnwitziger Verblendung glaubte man offenbar immer noch an einen Erfolg des Unternehmens „Wüste“. Etwa am 7. und am 13. April gingen zwei Bahntransporte mit rund 4000 vor allem kranken und schwachen Häftlingen in das Dachauer Außenlager Allach ab.

Die Häftlinge wurden in offenen Bahnwaggons transportiert. Sie wurden gequält von Hunger, Durst und Kälte in den offenen, überfüllten Waggons. Und die Transporte forderten nochmals viele Todesopfer. Möglicherweise verstarben 280 Menschen beim ersten Transport, was einem knappen Viertel der Häftlinge entsprochen haben dürfte.

Leichen wie Holz gestapelt

Bereits in Sigmaringen stapelten sich die Leichen sichtbar in den Waggons, wie ein damals 13-jähriger Junge später berichtete. „In der Mitte der Wagen … lagen, wie Holz gestapelt, Tote! Teilweise bis über die halbe Höhe der Seitenwände.

In den letzten beiden Wagen lagen nur Tote und das bis zum oberen Rand“, so seine Aussage. In Dachau-Allach war das Leiden nicht zu Ende: Häftlinge verstarben unmittelbar bei der Ankunft in Allach oder in den Tagen vor der Befreiung des Lagers.

Ein Teil der Häftlinge wurde erneut mit dem Zug evakuiert oder auf Todesmärschen in Richtung Alpen geschickt. Ein weiterer Teil erlebte die Befreiung in Allach durch die Amerikaner Anfang Mai 1945.

Die eigentliche Räumung der „Wüste“-Lager erfolgte zwischen dem 16. und 18. April, als die französischen Truppen immer näher rückten. Wahrscheinlich gab es einen Befehl, mit den verbliebenen Häftlingen sofort Richtung Osten aufzubrechen. Die Lager Dautmergen, Schömberg, Schörzingen und das KZ in Spaichingen, ebenfalls ein Außenlager von Natzweiler, bildeten die Ausgangspunkte für die Todesmärsche.

Für die Häftlinge war es ein chaotischer, überraschender Aufbruch. Nachdem die Häftlinge mit einigen Nahrungsmitteln ausgestattet waren, brachen Marschkolonnen mit 50 bis 300 Mann am Abend des 18. April wohl meist zwischen 18 Uhr und 21 Uhr von Dautmergen, Schörzingen und Schömberg aus auf, begleitet von Lagerpersonal und Wachmannschaften.

1500 bis 2500 Häftlinge auf Todesmarsch geschickt

Insgesamt dürften – vorsichtig geschätzt - zwischen 1500, vielleicht auch bis zu 2500 Häftlingen auf die Todesmärsche geschickt worden sein. Manche kranken Häftlinge oder Häftlinge, die sich versteckt hielten, blieben in den Lagern zurück und wurden dort befreit.

75 Jahre KZ-Befreiung: Im April 1945 beenden französische Truppen das unvorstellbare Leid

© Walter Looser-Heidger/Eugen Michelberger

1945: Evakulierung der „Wüste“-Lager und Todesmärsche.

Die Häftlingskolonnen nahmen unterschiedliche Marschrouten in Richtung Osten. Mögliche Ziele der Märsche könnten vielleicht Dachau bzw. die imaginäre „Alpenfestung“ oder auch das KZ Mauthausen gewesen sein, so die Aussagen von Überlebenden. Und tatsächlich endeten Märsche auch in der Gegend von Füssen, Marktoberndorf oder Innsbruck.

Die Märsche verliefen teilweise chaotisch und planlos. Traurige Belege für den tatsächlichen Verlauf der Routen stellen die Dokumentationen von Leichenfunden entlang der Wege dar.

Lagerpersonal und Wachmannschaften der „Wüste“-Lager begleiteten die Marschkolonnen. Was mit den einzelnen Marschgruppen geschah, hing stark vom jeweiligen Begleitpersonal ab. Hier gab es große individuelle Unterschiede.

Manche Bewacher blieben bis zuletzt grausam

Manche Täter verhielten sich bis zuletzt grausam, dann gab es viele Erschießungen von Häftlingen. Andere konnten sich humaner verhalten, von Erschießungen absehen und Fluchtversuche tolerieren.

Für die Häftlinge geschah der Aufbruch überraschend und dürfte, weil es ins Ungewisse ging, als bedrohlich empfunden worden sein. Auch gingen Gerüchte über eine geplante Erschießung der Häftlinge am Bodensee um. Marschiert wurde zum Teil vor allem des Nachts wegen möglicher Fliegerangriffe, aber manche Kolonnen scheinen auch tagsüber unterwegs gewesen zu sein.

Auch bei den „Wüste“-Märschen kam es nochmals zu Grausamkeiten der Bewacher, wie sie auch bei anderen Märschen zu beobachten sind, wobei man nicht generalisieren kann. Oftmals war die Behandlung und Verpflegung sehr schlecht. Es kam vor, dass die Häftlinge vom Wachpersonal geschlagen wurden.

Einer unbestimmten Anzahl von KZ-Gefangenen gelang auf den Märschen die Flucht. Die SS-Bewachung war zahlenmäßig einfach zu schwach, um die ganzen Transporte kontrollieren zu können. Es kam aber wohl auch vor, dass die Flucht stillschweigend geduldet wurde.

Die geflüchteten Gefangenen hielten sich in den Wäldern auf oder versteckten sich bei Bauern und erwarteten den Einmarsch der französischen Truppen. Ständig mussten sie aber noch gewärtig sein, von SS- oder Wehrmachtseinheiten aufgegriffen und erschossen zu werden.

Erschießung von Häftlingen

Und dann kam es vielfach zur Erschießung von Häftlingen. Bei späteren Ermittlungen der Kriminalpolizei wurde bei Leichenfunden eindeutig der Tod durch Genickschuss festgestellt. Häftlinge, die nicht mehr weitergehen konnten und wegen Entkräftung am Weg zurückblieben, waren von den Bewachungsmannschaften erschossen worden.

Die Häftlinge, die bis in den bayrisch-österreichischen Grenzraum gekommen waren, wurden erst relativ spät um den 28./30. April durch US-amerikanische Truppen befreit. Die meisten der „Wüste“-Häftlinge wurden auf dem Marsch durch französische Truppen um den 22. April befreit.

Die Stunden vor der Befreiung gestalteten sich ganz unterschiedlich. Mitunter waren die Häftlinge bedroht, noch in letzter Stunde liquidiert zu werden, so beabsichtigte in einem Fall die SS bei Ostrach, eine Scheune mit Häftlingen darin anzuzünden.

Zeitzeugenberichte von befreiten Häftlingen

Über ihre tatsächliche Befreiung berichten die KZ-Häftlinge zum Teil ganz lapidar: „Wir sind am Sonntagmorgen, den 22.4.45 in Ostrach angekommen. Unsere Restgruppe bestand aus etwa 200 Häftlingen. Wir sind tagsüber am Rande von Ostrach in zwei Scheunen untergebracht worden. Im Laufe dieses Nachmittags kamen … französische Truppen, es waren Panzereinheiten. Beim Näherkommen haben die SS-Männer sich abgesetzt und uns zurückgelassen. Auf diese Weise kam ich in Freiheit. Nach Auflösung der Marschgruppe in Ostrach ist jeder Häftling in eine andere Richtung weg und dürfte sich eine Unterkunft gesucht haben.“

Ein anderer Häftling erlebte seine Befreiung in Ostrach folgendermaßen: „Plötzlich hat es geheißen ‚Die SS ist fort!‘ Und da habe ich mich umgeguckt, und tatsächlich war kein SS-Mann mehr da, aber auch noch keine französischen Truppen. Der Ort wirkte wie ausgestorben, wie eine Geisterstadt. Aus Angst vor der Rückkehr der SS versteckten sich die Häftlinge. Am nächsten Tag kamen die Franzosen in Jeeps. Sie haben uns Essen gegeben. Viele sind daran gestorben. Die Franzosen haben es gut mit uns gemeint, aber die Leute waren so hungrig, daß sie alles gegessen haben und schnell und viel, und das ist nicht allen gut bekommen. ... Dann sind wir auseinander gegangen, die Sache war zu Ende.“

Dass die Häftlinge ihre Befreiung nicht so emotionslos erlebten, wie in mancher nachträglichen Schilderung der Eindruck erweckt wird, zeigt folgende Aussage: „Um 14 Uhr nachmittags zogen die ersten französischen Panzerwagen in Ostrach ein und wir waren befreit. Die Szenen, die sich abspielten, waren ergreifend. Die Häftlinge waren toll vor Freude. Endlich war der Moment der Befreiung gekommen. Dieses Gefühl werde ich niemals vergessen!“

Mehr zum Thema

Andreas Zekorn: Todesfabrik KZ Dautmergen. Ein Konzentrationslager des Unternehmens „Wüste“ mit einem Epilog zu dem polnischen Schriftsteller und KZ-Häftling Tadeusz Borowski, Stuttgart 2019. Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs Band 49, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, ISBN 978-3-945414-53-8. Bucherwerb direkt auf lpb-bw.de.

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