Zollernalbkreis

Gedanken zum Sonntag: Der Overview-Effekt

09.05.2018

Vatertag - so heißt der kirchliche Festtag Christi Himmelfahrt schon seit vielen Jahren im Volksmund. Die Väter und solche, die es vielleicht einmal werden, ziehen mehr oder weniger väterlich-vorbildlich durch die Lande.

Aber warum hat sich dieses Fest von seiner eigentlichen Bedeutung so weit entfernt?

Können wir so wenig damit anfangen? In unserem modernen Weltbild ist für einen religiös verstandenen Himmel als Ort des Göttlichen wohl kein Platz mehr.
Geht es um das antike Weltbild, nach dem der Himmel als Sitz der Götter dient, von wo aus zum Beispiel Zeus seine Blitze auf die Erde schleudert? Nein. Schon im ersten Jahrhundert nach Christus glaubte man nicht mehr daran, dass irgendjemand im sichtbaren Himmel sitzt. So wie die englische Sprache mit dem Wort „sky“ für den sichtbaren und „heaven“ für den unsichtbaren Himmel zwei Wörter kennt, so hat auch schon die Sprache des Neuen Testaments die Unterschiede benannt: Die göttliche Sphäre steht in den griechischen Urtexten meist in der Mehrzahl. So beginnt das Vater-unser-Gebet genau übersetzt mit dem Zusatz „in den Himmeln“. Das Firmament jedoch, an dem wir die Sterne sehen, steht dagegen in der Einzahl, „der Himmel“.

Die Bibel will sagen: Jesus wird über den sichtbaren Himmel hinaus entrückt in ein Reich des Göttlichen, in die Himmel, die uns unzugänglich bleiben. Gleichzeitig werden die Blicke der dabeistehenden Menschen für einen Augenblick von der Erde, von ihrem Alltag abgelenkt. Sie gewinnen dabei Abstand von dem, was sie unmittelbar umgibt. Sie können die Welt zwar nicht mit den Augen Gottes sehen, aber für einen hellen Augenblick lang erweitert sich ihre verengte Sichtweise auf das irdische Dasein.

Heute können wir diesen Perspektivwechsel noch viel besser nachvollziehen als die Zeitgenossen der Bibel. Es gibt sogar ein Fremdwort dafür. In der Raumfahrt spricht man vom „Overview-Effekt“, wenn die modernen Himmelsfahrer von ihrem ersten Blick aus dem All auf die Erde erzählen. Dieses Erlebnis muss so nachhaltig sein, dass es sogar die Persönlichkeit verändern kann. Aus rationalen Wissenschaftlern werden auf einmal sensible Mahner, die von der Verletzlichkeit der Welt, der Verbundenheit allen Lebens auf der Erde und von unserer Verantwortung reden. Wie der deutsche Astronaut Alexander Gerst, der im November 2014 von der internationalen Raumstation ISS zurückkehrte. „Um zu erkennen, wie schön die Erde wirklich ist, brauchte ich nur eine Minute“, sagt er im Rückblick auf seine Mission im Weltall. Alle Grenzen, alle Konflikte erschienen ihm in dieser neuen Sicht wie ein Sakrileg: „Nur wenn wir gemeinsam handeln, wenn wir uns als die eine Menschheit begreifen, so wie wir sie deutlich aus dem All sehen, können wir die Zukunft gestalten.“

Von diesem Overview-Effekt würde ich mich nicht nur an Himmelfahrt gerne mal berauschen lassen.

Gedanken zum Sonntag: Der Overview-Effekt

Pfarrer Christof Seisser, evangelische Kirchengemeinde Heselwangen.

Diesen Artikel teilen: