Balingen

Zwei Urgesteine unter den Räten sagen nach Jahrzehnten der Lokalpolitik in Balingen Adieu

30.03.2021

Von Nicole Leukhardt

Zwei Urgesteine unter den Räten sagen nach Jahrzehnten der Lokalpolitik in Balingen Adieu

© Nicole Leukhardt

Balingens Oberbürgermeister Helmut Reitemann (rechts) und Bürgermeister Reinhold Schäfer (links) verabschiedeten Werner Jessen am Dienstag aus dem Balinger Gemeinderat. Für dessen Frau Ulrike gab's Blumen.

68 Jahre lang haben sie – zusammengenommen – das lokalpolitische Geschehen in Balingen geprägt, mit Mut, Verantwortungsbewusstsein, Einsatzbereitschaft und der Fähigkeit zum Kompromiss, wie OB Helmut Reitemann betont. Am Dienstag verabschiedete er Werner Jessen (Freie Wähler) und Frank Gess (CDU) aus dem Balinger Gemeinderat.

Beide Räte, richtige Urgesteine, hätten sich über die vielen Jahrzehnte hinweg in den Dienst der Stadt Balingen gestellt, unzählige Stunden für die Sitzungen des Gemeinderates, der Ausschüsse und ihrer Fraktionen aufgewendet und dabei auch unpopuläre aber notwendige Entscheidungen mitgetragen, betonte Reitemann in der Sitzung des Gemeinderats am Dienstagabend.

Er nannte die Kommunalpolitik „das Fundament unserer Demokratie“, in der Zukunft gestaltet werde und die immer nah am Bürger sei. Gelebte Demokratie sei ein nicht selbstverständliches Gut, „um das wir in vielen Ländern der Welt auch beneidet werden.“

Verdienstabzeichen für Werner Jessen

Werner Jessen habe zu dieser gelebten Demokratie einen großen Beitrag geleistet, denn er war über 40 Jahre lang Gemeinderat der Stadt. Für dieses Engagement wurde ihm, coronabedingt mit Verspätung, dafür passend zu seinem Ehrentag, das Verdienstabzeichen des Städtetags in Gold mit Lorbeerkranz verliehen.

In den vier Jahrzehnte habe sich Jessen „mit ganzem Herzen nicht nur hier im Gemeinderat, sondern auch in nahezu allen Ausschüssen und vielen weiteren Institutionen eingebracht“, zählte Reitemann auf. Ob im Verwaltungsausschuss, im Technischen Ausschuss, im Stadtwerkeausschuss, im Umlegungsausschuss, im Gemeinsamen Ausschuss der Städte Balingen und Geislingen, in der Ehrenkommission oder in verschiedenen Zweckverbänden: Jessen habe durch sein engagiertes Wirken die Stadt über viele Jahre hinweg positiv geprägt und vorangebracht.

Viele große Projekte in 40 Jahren gestemmt

In Jessens Amtszeit fielen Balinger Großprojekte wie die Stadtsanierung, die Schaffung der neuen Stadtmitte mit Fußgängerzone und Marktplatz, die Neubebauung des Quartiers Klein-Venedig, die Neugestaltung des Kirchplatzes und zahlreiche Bebauungspläne, mit denen Wohn- und Gewerbegebiete entstanden sind. „Ein großes Projekt war natürlich auch der Neubau und die Sanierung und Erweiterung der Stadthalle, die nun auch seit etwa 40 Jahren kultureller Mittelpunkt nicht nur für Balingen, sondern für die gesamte Region ist“, fügte OB Reitemann an. Und nicht zuletzt die Gartenschau habe Werner Jessen maßgeblich mit auf den Weg gebracht.

Bildung sei für Jessen stets ein wichtiges Thema gewesen, „als Gemeinderat haben Sie sich nicht nur während Ihrer Zeit als Schulleiter des Balinger Gymnasiums, sondern auch danach immer für die schulische und die außerschulische Bildung eingesetzt“, führte Reitemann weiter aus. Dies werde nicht zuletzt daran deutlich, dass Jessen bis heute stellvertretender Vorsitzender der Volkshochschule Balingen sei. Und so sei es auch kaum verwunderlich, dass sich der scheidende Gemeinderat für den Ausbau der Balinger Schulen zu Ganztageseinrichtungen, für die Schaffung von Betreuungsplätzen für Kinder unter 3 Jahren oder auch die zahlreichen Schulsanierungen und -erweiterungen stark gemacht habe.

Mit Weitblick und Sachverstand

Jessen habe bei allen Projekten stets mit sehr viel Weitblick und Sachverstand gehandelt, sachliche, wohldurchdachte und gut recherchierte Argumente eingebracht. „Sie waren auch immer wieder Mahner, wenn es darum ging, Maß zu halten und die Finanzen im Blick zu haben. Polemik, Übertreibung oder Unsachlichkeit waren Ihnen fremd. Und so wurden Sie im gesamten Gremium sehr geschätzt und anerkannt, Ihre Stimme hatte Gewicht und entscheidenden Einfluss auf die Beschlüsse, die gefasst wurden“, so der OB.

Werner Jessen war zudem 22 Jahre lang Vorsitzender der Fraktion der Freien Wähler, 20 Jahre lang ehrenamtlicher Stellvertreter des Oberbürgermeisters und zehn Jahre lang Mitglied des Kreistages. „Auch in diesem Gremium galt es in dieser Zeit, wichtige und wegweisende Entscheidungen zu treffen, wie beispielsweise den Grundsatzbeschluss zum Bau eines Zentralklinikums und in diesem Zusammenhang auch den Beschluss zur Festlegung des Standortes. Auch das umfassende Investitionspaket für Schulneubauten, -sanierungen und -erweiterungen fiel in Jessens Amtszeit.

Blieb bei der Vielzahl an politischen Aufgaben noch Zeit für Privates? Und ob: „Seit 1961 sind Sie Mitglied der TSG Balingen, waren leidenschaftlicher Handballer und unterstützen die Abteilung Leichtathletik als Kampfrichtwart und Veranstaltungsorganisator“, zählte Reitemann auf. Als pädagogischer Leiter und als langjähriger Vorsitzender des Fördervereins Handballzentrum Balingen habe sich Jessen ebenfalls einen Namen gemacht. „Zudem waren Sie auch in der Balinger Tennisgemeinschaft aufgrund Ihrer jahrelangen Tätigkeit in der Vorstandschaft und als Mannschaftsführer der Herren 65 kein Unbekannter, sondern aktiv am Vereinsgeschehen beteiligt.“

Den Ehrenring der Stadt habe er Jessen bereits 2012 verliehen, „dies war sozusagen das große Dankeschön, das Ihnen seitens der Bürgerschaft, des Gemeinderates und der Verwaltung entgegengebracht wurde“, so der OB. Das Verdienstabzeichen des Städtetags in Gold mit Lorbeerkranz sei dahinter „ein dickes Ausrufezeichen“.

„Das Gremium hat von Ihnen profitiert“

Reitemann bedankte sich im Namen des Städtetages, der Stadt, des Gemeinderates, im Namen von Bürgermeister Reinhold Schäfer und der gesamten Verwaltung, aber auch ganz persönlich bei Werner Jessen und seiner Frau. „Das Gremium hat immer wieder von Ihrem Fachwissen, Ihren umfassenden Kenntnissen der Balinger Gegebenheiten und vor allem auch Ihren langjährigen Erfahrungen als Schulleiter des Balinger Gymnasiums profitiert“, bekräftigte Reitemann.

Und Jessen selbst? „Ein jegliches hat seine Zeit“, sagte der und blickte auf sein lokalpolitisches Engagement als eine Zeit zurück, die er stets nach dem Leitsatz „suche der Stadt Bestes“ gelebt habe. 2000 Sitzungen und 10.000 Tagesordnungspunkte lägen hinter ihm, die „selten Last und oft Bereicherung“ für ihn gewesen seien. Mit einem „bleiben Sie unverzagt, auf Wiedersehen“, räumte er seinen Platz für Klaus-Dieter Schwabenthan. Die Stelle des Fraktionssprechers übernimmt nun Ermilio Verrengia.

Doch nicht nur Werner Jessen verabschiedete sich aus dem Gremium, auch CDU-Rat Frank Gess schied aus dem Gemeinderat aus. Er war 1994 erstmals Mitglied der CDU-Liste im Gemeinderat und wurde zugleich auch in den Ortschaftsrat von Weilstetten gewählt. „Sie begannen Ihre kommunalpolitische Betätigung also gleich mit einem Doppelschlag“, betonte OB Reitemann. Dem Ortschaftsrat blieb er bis zu seinem Wegzug 2005 treu, dem Gemeinderat ununterbrochen bis heute.

„Sie gehörten nahezu jedem Gremium an“

In diesen 27 Jahren kommunalpolitischer Tätigkeit gehörte Frank Gess auch dem Technischen Ausschuss, dem Umlegungsausschuss und dem Gemeinsamen Ausschuss der vereinbarten Verwaltungsgemeinschaft Balingen/Geislingen an. Zudem war er Mitglied in der Ehrenkommission der Zweckverbände Abwasserreinigung Balingen und Wasserversorgung Zollernalb und in diversen weiteren Gremien stellvertretendes Mitglied, wie im Verwaltungs- oder im Stadtwerkeausschuss. „Im Laufe Ihrer kommunalpolitischen Laufbahn gehörten Sie nahezu jedem Gremium unserer Stadt an“, so Reitemann.

In diese Zeit fielen die Diskussionen und die Entscheidungen um die Neubebauung des Gerberviertels oder die Sanierung des Rathauses, die Einführung von Ganztageseinrichtungen an den Schulen, der Neubau von Mensa und Mediothek am Schulzentrum Längenfeld und zahlreiche Sanierungsvorhaben an den Schulen. Neben der Schaffung von Kleinkindbetreuungsplätzen stand auch das Großprojekt Gartenschau 2023 im Fokus.

Sein Fokus lag auf dem Einzelhandel

„Ein besonderes Augenmerk richteten Sie bei Ihrer kommunalpolitischen Arbeit aber auf die Entwicklung des Einzelhandels in der Innenstadt sowie auf das Erscheinungsbild unserer Flaniermeile“, führte Reitemann aus. Die bauliche Entwicklung in der Innenstadt sei ebenso im Fokus gestanden wie eine intakte Innenstadt und gebührenfreie Parkplätze.

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© Nicole Leukhardt

Auch Frank Gess nahm Abschied vom Balinger Gemeinderat.

Gess habe die Debatten und Entscheidungen stets mit großem Sachverstand und einem wachen Auge begleitet. „Dabei scheuten Sie nicht davor zurück, auch mal zu warnen oder die Kehrseite einer Medaille anzusprechen und hierbei Ihre Meinung und Ihre Überzeugung zu vertreten. Aber immer mit dem Ziel, letztendlich zu einer vernünftigen, praktikablen und auch tragbaren Lösung zu kommen“, so der OB, der Gess‘ „profundes Wissen über das städtische Geschehen“ besonders hervorhob.

Diskussionen waren stets fair und respektvoll

Sein Wort sei innerhalb seiner Fraktion wie im gesamten Gremium oft ausschlaggebend gewesen. „In den Debatten legten Sie stets Wert darauf, dass Diskussionen fair und im Geiste des gegenseitigen Respektes geführt werden“, betonte Reitemann und würdigte gleichzeitig Gess’ Engagement für die Kreishandwerkerschaft Zollernalb und die Raumausstatter-Innung Zollernalb, deren Obermeister Gess bis heute ist.

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© Nicole Leukhardt

Klaus-Dieter Schwabenthan und Ute Hirthe rücken in den Balinger Gemeinderat nach und wurden von OB Helmut Reitemann im Amt verpflichtet.

Reitemann bedankte sich im Namen aller „für Ihr langjähriges Engagement und das sehr konstruktive und angenehme Miteinander“ und wünschte dem scheidenden Rat, „dass Sie die künftig die für Sie entstehenden Freiräume bestmöglich nutzen können.“ Gess fasste sich kurz: Er wolle die gewonnene Zeit in private Projekte investieren, sagte er, bedankte sich für die Worte bei OB Reitemann und seinen Ratskollegen und wünschte allen „machen Sie‘s gut“. Auf seinen Posten folgt Ute Hirthe.

Ehrung für Ostdorfs Ortsvorsteher Helmut Haug

Keine Verabschiedung, aber eine besondere Auszeichnung wurde schließlich Ostdorfs Ortsvorsteher Helmut Haug zuteil: Haug wurde für seine über 30-jährige kommunalpolitische Tätigkeit und seine 20-jährige Tätigkeit als Ortsvorsteher von Ostdorf mit der Ehrennadel des Gemeindetages von Baden-Württemberg gewürdigt.

OB Reitemann nannte Ostdorfer Projekte in Haugs Amtszeit wie den Bau des Schuppengebiets, die Erweiterung des Wohngebiets Käppele um weitere Bauabschnitte, den Ausbau des Zwerenbacher Weges, die Weiterentwicklung des Sportgeländes oder die Erweiterung des Feuerwehrhauses sowie die Beschaffung von Feuerwehrfahrzeugen. „Weiter standen der Erhalt der Ostdorfer Brunnen, die das Dorfbild von Ostdorf in besonderer Weise prägen, auf Ihrer Agenda ebenso wie die Errichtung des sozialen Netzwerkes ‚Jong und alt – z’samme halt‘.“

Nachdem der Wunsch der Bürger nach besserem Internet erfüllt sei, gelte Haugs Bemühen einer verbesserten Busanbindung.

Haugs Werdegang

Haug hat nach seiner Ausbildung und einigen Dienstjahren bei der Wehrbereichsverwaltung Süd im Jahr 2003 bei der Stadtverwaltung Balingen begonnen, zunächst als Sachbearbeiter in der Bußgeldstelle, später als Sachgebietsleiter für Feuerwehrwesen, Waffen- und Sprengstoffrecht. 2016 wurde er zum Abteilungsleiter der Verkehrsbehörde und der Bußgeldstelle befördert. Außerdem war Haug über viele Jahre hinweg Standesbeamter für die Standesamtsbezirke Balingen und Ostdorf.

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© Nicole Leukhardt

Ostdorfs Ortsvorsteher Helmut Haug (zweiter von links) wurde für sein langjähriges, kommunalpolitisches Engagement ausgezeichnet.

Außerdem ist Helmut Haug seit 1985 im Vorstand der Ostdorfer Ortsgruppe des Schwäbischen Albvereins dabei, war 16 Jahre Jugendleiter und ebenfalls über eine sehr lange Zeit Leiter der Volkstanzgruppe. „Ihr Engagement für Ostdorf ist wahrlich überragend“, so Reitemann abschließend. „Als Fazit lässt sich festhalten, dass Sie in Ihren vielen Jahren als Ortschaftsrat und Ortsvorsteher mit Ihrem Elan, Ihrem Sachverstand und Ihrem Durchsetzungsvermögen sowie einem sehr hohen Maß an Leistungsbereitschaft Hervorragendes sowohl für Ostdorf als auch für die Gesamtstadt Balingen geleistet haben“, so der OB.

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