Zwiefalten

Wenn Stalking außer Kontrolle gerät: Mann verletzt zwei Personen in Zwiefalten mit Messer

10.01.2023

von Dirk Grupe

Wenn Stalking außer Kontrolle gerät: Mann verletzt zwei Personen in Zwiefalten mit Messer

© Rudolpho Duba/pixelio.de

Das beschauliche Zwiefalten – Ort des Geschehens.

In Zweifalten wird ein Mann monatelang verfolgt und belästigt. Schließlich sticht der mutmaßliche Täter zwei Personen nieder. Nun erhebt das Stalkingopfer schwere Vorwürfe gegen die Behörden.

David Horvat sitzt am Küchentisch seiner Einliegerwohnung in Zwiefalten, nippt am Kaffee und ist genauso ratlos wie am Anfang seines Martyriums. „Ich weiß bis heute nicht, warum dieser Mann mich verfolgt hat“, sagt der 23-Jährige.

Alles beginnt mit einer Facebookanfrage

„Niemand weiß das.“ Begonnen hatte alles im März vergangenen Jahres mit der scheinbar harmlosen Facebookanfrage eines 30-Jährigen, der ebenfalls in Zwiefalten wohnt. Und der von da an zu Horvats Schatten wird. Der ihn beschimpft und bedroht, der ihm wie besessen auflauert und auch die Nachbarschaft terrorisiert.

Der am Ende zwei Unbeteiligte mit dem Messer teils schwer verletzt. Warum? Diese Frage stellt Horvat längst auch anderen: „Ich habe nie richtig Hilfe bekommen. Ich fühle mich komplett allein gelassen.“

Beschimpfungen auf Facebook

Dieses Gefühl teilt er mit anderen Opfern von Stalking, dem wiederholten Verfolgen und Belästigen einer Person „gegen deren Willen bis hin zu körperlicher und psychischer Gewalt“, wie es die Polizei definiert. Rund 20.000 Verfahren wegen Nachstellung zählt die Kriminalstatistik pro Jahr, die Opferhilfe Weisser Ring geht jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus.

Hunderttausende werden demnach tyrannisiert, schlimmstenfalls mit tödlichem Ausgang, nicht selten verübt durch einen früheren Partner. Die Rechtsgrundlage für Nachstellung (§238 StGB) wurde in den vergangenen Jahren zwar verschärft, Experten sehen aber noch immer Mängel in der Strafverfolgung und sprechen von einer „unterschätzten Gewalt“. Und ganz kompliziert wird es, wenn es sich beim mutmaßlichen Täter um einen Flüchtling handelt, wie in Zwiefalten.

Ganze 2300 Einwohner zählt die Gemeinde im Kreis Reutlingen, mehr oder weniger kennt dort noch jeder jeden. David Horvat, der hier nur unter geändertem Namen erscheinen möchte, weiß daher schnell, wer ihn damals auf Facebook anfragt – und nach einem kurzen Schriftverkehr übel beschimpft und beleidigt. „Da habe ich ihn blockiert. Für mich war der Fall damit erledigt.“

Polizei hat nicht wirklich Interesse

Aber nicht für seinen Widersacher. An einem Sonntagabend springt der Mann wie aus dem Nichts vor sein Auto und schleudert eine Getränkedose gegen die Windschutzscheibe. „Ich musste bremsen und ausweichen“, sagt Horvat, der Anzeige erstattet wegen Sachbeschädigung und der früheren Beleidigung. Von der Polizei vorgeladen, gibt der 30-Jährige die Taten offenbar zu. Setzt seinen Terror aber fort.

Pfingstsonntag wird Horvat von einer Nachbarin geweckt, sie habe gesehen, wie der Mann sein Auto zerkratzt. Auf die nächste Anzeige folgt die nächste Vorladung, wie gehabt ohne Wirkung. Einmal tritt der Stalker im Ort gegen sein Auto, ein anderes mal schubst er Horvat im Supermarkt gegen ein Regal und fordert ihn auf: „Komm raus!“ Macht sich dann aber doch davon.

Die Vorfälle stoßen bei der Polizei laut Horvat zunehmend auf Desinteresse. „Da könnten sie jetzt auch nichts machen, hieß es immer.“ Der Täter läuft derweil jeden Abend durch seine Siedlung. Steht manchmal nur da und beobachtet das Haus, klingelt bei den Nachbarn oder brüllt auf der Straße. „Damals bin ich gar nicht mehr rausgegangen und von der Arbeit direkt nach Hause. Oft habe ich die Rollläden runtergelassen.“

Alptraum geht nach Umzug weiter

Längst ist sein Umfeld alarmiert, Freunde und Nachbarn schließen sich zu einer Whatsappgruppe zusammen, melden, wenn der 30-Jährige irgendwo auftaucht. „Jeder hat Angst gehabt. So einer Person ist alles zuzutrauen.“ Tatsächlich droht die Situation zu eskalieren. Eines Morgens sind die Reifen an Horvats Auto zerstochen und die Scheibenwischer umgebogen.

An einem anderen Tag finden sich Trittspuren an seiner Haustür, die sich nicht mehr öffnen lässt, weil ein falscher Schlüssel im Schloss abgebrochen wurde. „Mir wurde klar: Ich schaffe das nicht mehr. Ich ziehe aus.“ Ein Kumpel und sein Vater halten abends Wache, während er eine Tasche packt und dann zu den Großeltern zieht. Der Alptraum ist damit aber noch nicht vorbei.

Die ständige Anspannung zehrt an den Nerven des Stalkingopfers, das schlecht schläft und oft gar keine Nachtruhe findet. Auch am 20. Oktober gegen 23.30 Uhr ist Horvat noch wach, als er über Whatsapp erfährt, dass sein Peiniger wieder um seine Wohnung schleicht, schließlich Sturm klingelt und herumschreit.

Messerangriff auf Unbeteiligte

Von einer Geburtstagsfeier eilt eine Gruppe rüber, um den Randalierer zur Rede zu stellen – da zieht dieser plötzlich ein Messer. Sticht auf den Nachbarn ein, den er in Bauch, Brust und Rücken trifft. An der Leber verwundet, muss er notoperiert werden, ein zweiter Mann wird an der Hüfte verletzt. Den mutmaßlichen Täter nimmt die Polizei in Haft.

Aber warum dieser Wahn? Diese Frage lässt Horvat nicht los, „man macht sich viele Gedanken“. Den Mann kannte er nur vom Sehen, direkten Kontakt habe es nie gegeben, weder im Ort noch im Fußballverein, wo auch Flüchtlinge willkommen sind. Von einer Frau sei während des Konflikts einmal die Rede gewesen, zuordnen könne er das aber nicht. Darüber hinaus bleibt die Enttäuschung über die Behörden.

„Wir wurden sieben Monate lang allein gelassen mit unseren Ängsten und der Gefahr für Leib und Leben“, klagt Horvats Vater. Die Verantwortlichen hätten manches abgetan und die Anzeigen viel zu lange liegen gelassen. „Wegen Untätigkeit halte ich die Staatsanwaltschaft daher für mitverantwortlich“, sagt der 49-Jährige. Als Ursache vermutet er eine falsch verstandene Solidarität mit Flüchtlingen, die auf Kosten des Opferschutzes gehe. Dem widerspricht die Staatsanwaltschaft.

Kein Stalking?

Auf Anfrage teilt die Behörde mit, dass drei der eingereichten Anzeigen rechtskräftig geahndet wurden mit einem Strafbefehl und einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen. Zwei weitere Anzeigen wegen Sachbeschädigung und Bedrohung „lagen der Staatsanwaltschaft Tübingen zum Zeitpunkt des Messerangriffs in Zwiefalten noch nicht vor“, heißt es weiter, „sodass ein Tätigwerden insoweit von hier aus noch nicht möglich war“. Und der Vorwurf der Nachstellung?

Das Polizeipräsidium Reutlingen erklärt dazu, dass die Beamten in Zwiefalten zusammen mit der Staatsanwaltschaft ein Verfahren nach Paragraf 238 StGB zwar rechtlich geprüft hätten – die Handlungen des Verdächtigen „den Tatbestand der Nachstellung jedoch nicht erfüllen“. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren „wurde folglich nicht eingeleitet“.

Trotz monatelanger Belästigungen bis hin zu psychischer Tyrannei und am Ende lebensgefährlicher Gewalt? Obwohl Paragraf 238 doch Nachstellung genau dieser Art ahndet? Nämlich wenn der Täter in den Lebensbereich des Opfers eindringt, wenn er beharrlich und wiederholt dessen Leben schwerwiegend beeinträchtigt. Und trotzdem soll kein Stalking vorgelegen haben?

Juristische Bewertung Auslegungssache

„Ich würde hier auf jeden Fall Stalking sehen“, erklärt die Stuttgarter Rechtsanwältin Bianca Vetter, die Opfer von Nachstellung vor Gericht vertritt. Daher weiß sie aber auch: „Die juristische Bewertung kann in solchen Fällen sehr unterschiedlich ausfallen.“ Erschwerend, so die Juristin, mag in Zwiefalten hinzukommen, dass der Täter womöglich unter einer psychischen Erkrankung, unter einem Trauma leidet.

Neben dem objektiven Tatbestand würde dann auch der subjektive geprüft: Begreift der Täter, dass er den Betroffenen durch seine Handlungen massiv stört? Ist er überhaupt schuldfähig? Und eine strafrechtliche Verfolgung erfolgversprechend? Die Staatsanwaltschaft Tübingen hat diese Fragen offenbar mit Nein beantwortet.

Vetter rät daher bei Stalking dazu, auch zivilrechtliche Schritte einzuleiten und einen Gewaltschutzantrag zu stellen. Das Gericht kann dann zum Beispiel ein Annäherungsverbot gegen den Aggressor aussprechen. Ihn aufgrund psychischer Auffälligkeiten einfach wegzusperren, ist hingegen extrem schwer. Weil ein gravierender Eingriff ins Persönlichkeitsrecht, weil sich eine Gefahr für Leib und Leben nur selten zweifelsfrei belegen lässt.

Annäherungsverbot hätte keinen Sinn gehabt

An ein Annäherungsverbot indes haben auch Horvat und seine Familie gedacht, wie der Vater erklärt. Dafür hätte man sich aber einen Opferanwalt nehmen müssen, verbunden mit hohen Kosten. „Der Schaden an dem Auto meines Sohnes ging aber schon in die Tausende“, erklärt er.

„Außerdem war uns klar, dass ein Annäherungsverbot keinen Sinn gehabt hätte.“ Nicht nach den pausenlosen und nervenaufreibenden Vorfällen. Die allerdings auch im Rathaus der überschaubaren Gemeinde niemand erkannt haben will.

„Wir haben erst eine Woche vor der Messerattacke von den Taten des Mannes erfahren“, erklärt Bürgermeisterin Alexandra Hepp. Geplant war damals, ihm einen Arztbesuch in der forensischen Klinik des ZfP in Zwiefalten zu vermitteln, doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

Gravierende Konflikte mit Flüchtlingen habe es davor auch nie gegeben, im Gegenteil: „Viele haben sich gut integriert und in der Region Arbeit gefunden“, sagt Hepp, die beteuert: „Das ist ein tragischer Einzelfall.“

Davon geht auch Christa Herter-Dank von der Diakonie aus, die in Zwiefalten die Flüchtlinge betreut. Und den Mann, der schon vor sieben Jahren aus Afghanistan kam, lange kennt. „Ich war sehr überrascht von der Messerattacke, das passt gar nicht zu ihm „, sagt Herter-Dank.

„Mir gegenüber war er immer sehr respektvoll. Dass er möglicherweise gewalttätig werden könnte, war überhaupt nicht absehbar.“ Die anwaltliche Vertretung des Mannes wollte sich dazu auf Anfrage nicht äußern.

Das ungute Gefühl bleibt

David Horvat war auf alle Fälle mit der Gefahr und den seelischen Belastungen auf sich allein gestellt. Konfrontiert mit einer komplexen und dehnbaren Rechtsprechung, mit teils trägen Reaktionen aus den Amtsstuben, mit einer mangelnden Sensibilität für eine heraufziehende Gefahr. Und nicht zuletzt mit dem Unvermögen einer Politik, die es trotz vielfacher Warnungen von Fachleuten bis heute unterlässt, Flüchtlinge einem psychologischen Screening zu unterziehen, um Gewaltakten vorzubeugen.

Horvat ist jedoch weit davon entfernt, diese Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht zu stellen. Kann sich vielmehr in die Lage der Flüchtlinge hineinversetzen, zog sich doch einst durch den Ort der Großeltern die Grenze zwischen Serbien und Kroatien. „Das war die Front. Ich habe eine kriegsgeschädigte Familie“, sagt der 23-Jährige. „Diesen Leuten muss geholfen werden.“

Ihm selbst geht es inzwischen besser, weil es auch den Opfern der Messerattacke wieder gut geht. Weil der mutmaßliche Täter demnächst vor Gericht steht und eines Tages vielleicht abgeschoben wird. „Ein ungutes Gefühl habe ich trotzdem manchmal.“ Wenn draußen der Bewegungsmelder anspringt oder jemand ums Haus geht. Dann holt ihn die Vergangenheit wieder ein, die lange Zeit der Angst und der Hilflosigkeit.

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