Weltweit zunehmender Antisemitismus wird genährt durch die Verschwörungsmythen im Internet

Von Matthias Badura

Dr. Michael Blume sprach in der Alten Synagoge Hechingen über dieses immer wieder aktuelle Thema.

Weltweit zunehmender Antisemitismus wird genährt durch die Verschwörungsmythen im Internet

Dr. Michael Blume, Religionswissenschaftler, Landesbeauftragter für Antisemitismus und Buchautor, referierte in der Alten Synagoge Hechingen.

Angela Merkel ist die Tochter des Juden Helmut Kohl; die Bundeskanzlerin zittert in jüngerer Zeit desöfteren, weil ihre jüdisch gelenkte Fernsteuerung einen Macken hat; Juden haben zuerst den Orient zerstört und jagen jetzt Afrikaner nach Europa, um den Kontinent in den Untergang zu treiben; über den jüdischen Manipulatoren und international agierenden Strippenziehern stehen aber in Wirklichkeit Reptiloiden – außerirdische Halbechsen! Und die Flugzeug-Kondensstreifen am Himmel sind in Wirklichkeit versprühtes Gift.

Mannigfaltige Geschichten

„Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll“, bilanzierte Dr. Michael Blume in der Alten Synagoge Hechingen seine Kostproben antisemitischer Verschwörungstheorien, die mannigfaltig im Internet kursieren. Wahrhaft beklemmend, so der Landesbeauftragter für Antisemitismus, sei allerdings, dass dieser hanebüchene Unsinn geglaubt wird.

Hetz- und Schauergeschichten

Der promovierte Religionswissenschaftler, der an dem Abend auf Einladung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zu Gast war, verwendete in seinem Antisemitismus-Vortrag nicht den Begriff „Verschwörungstheorien“, sondern beharrte darauf, diese Hetz- und Schauergeschichten als „Verschwörungsmythen“ zu bezeichnen. Theorien, so Blume, könne man überprüfen, beweisen oder widerlegen, Mythen seien starr und verfestigt, sie lassen keine Diskussion zu, sind auch nicht dafür angelegt.

Weltweiter Anstieg

Wie der Referent feststellte, hat der Antisemitismus, nachdem man ihn (zumindest in Deutschland) überwunden glaubte, in jüngerer Zeit weltweit zugenommen. Und merkwürdigerweise gerade auch in Ländern, die gar keinen jüdischen Bevölkerungsanteil aufweisen. Andererseits seien Verschwörungsmythen, die das jüdische Volk bezichtigen, Unheil über die Welt zu bringen, uralt. Als Erklärungen für latentes Unbehagen oder Hass gegenüber dem Judentum nannte der Landesbeauftragte die Geschlossenheit der Religionsgemeinschaft, ihren Bildungseifer als Schriftreligion und ihre Toleranz gegenüber Frauen.

Vor über 2000 Jahren Früchte getragen

Diese Eigenschaft, war er überzeugt, führen zum Erfolg jeder Gesellschaft, im Judentum hätten sie jedoch bereits vor über 2000 Jahren Früchte getragen. Folge waren, Blume zufolge, Unverständnis und Neid, die sich in Mythen niederschlugen und als Erklärung für die weniger Erfolgreichen dienten.

Um neue Schauergeschichten und gezielte Fälschungen, wie etwa die „Protokolle der Weisen von Zion“ bereichert, haben sich die Vorurteile, Legenden und Mythen bis heute erhalten.

Buchdruck beförderte Hexenglauben

Sie kochen, behauptete der Religionswissenschaftler weiter, zumal in Umbruchzeiten hoch und verbreiten sich immer dann epidemieartig, wenn neue Medien auftauchen. Blume verwies hier auf den Buchdruck, der auch den Hexenglauben beförderte, wenn nicht gar erst entfachte.

„Neue Medien bewirken Gutes, sie können aber auch Böses hervorrufen“, wiederholte der Referent mehrfach. So seien neben allen Segnungen des Internets auch die antisemitischen Verschwörungsmythen in vergangenen Jahren ins Kraut geschossen und hätten die von ihnen Infizierten radikalisiert.

Unsinn von Gebildeten nachgebetet

Nicht bis ins letzte Detail erklären konnte Blume, warum der hanebüchene und pseudowissenschaftliche Unsinn in ökonomisch ganz unterschiedlich strukturierten, also auch wohlhabenden, Gesellschaften Widerhall findet und dort sogar von Gebildeten nachgebetet wird. Klar wurde aber so viel: Verschwörungsmythen liefern einfache Erklärungen in Krisenzeiten und in einer komplexer werdenden Welt, sie geben Struktur und dem, der an sie glaubt, das Gefühl, zu den Wissenden zu gehören. Seelenfrieden geben sie ihm freilich nicht, schränkte Blume ein. Die Anhänger seien angstzerfressen, würden ständig und immer mehr in dem Wahn leben, es sei „jemand hinter ihnen her: Ihr Staat, ihr Bürgermeister, ihr Arzt, ihre Zeitung...“

Diskutieren bringt wenig

Was kann man dagegen tun? Mit Betroffenen zu diskutieren bringe wenig. „Die allermeisten sind mit Argumenten nicht zu erreichen. „Wenn man ihnen widerspricht, wird man als Teil der Verschwörung angesehen. Oder als Schlaf-Schaf, das zu dumm ist die ,wahren‘ Zusammenhänge zu durchschauen.“

kam aus dem Publikum – liege womöglich darin, das Thema in die Schulen zu tragen und selbst schon Grundschüler darüber aufzuklären?

Antrag an die Landesregierung

Der Referent stimmte zu: Er selber hat soeben der Landesregierung seinen Antisemitismusbericht vorgelegt, darin ist dieser Vorschlag ebenso enthalten wie das dringende Anliegen, das Thema „zunehmender Antisemitismus“ im Landtag zu behandeln.

Warnung!

Abschließend warnte Blume nochmals vor der Gefährlichkeit der Verschwörungsmythen. Sie zersetzen die Gesellschaft und letztlich sei keine Gruppe und kein Land sicher, in den Fokus der Hassphantasien zu geraten – und bedroht zu werden.