„Warum müssen wir so kämpfen?“: Anwalt des kleinen Tiago aus Binsdorf schlägt Gerichtsweg ein

Von Rosalinde Conzelmann

Während der Schweizer Pharmakonzern Novartis seine höchst umstrittene Verlosungsaktion im Februar für 100 Zolgensma-Spritzen startet und weltweit in den Schlagzeilen ist, sind die Eltern des an Muskelschwund erkrankten Tiago verzweifelter denn je. Es zeichnet sich ab, dass ihnen der Gutachterweg versperrt bleibt. Johannes Kaiser, der Anwalt der Familie, hat nun beim Sozialgericht eine einstweilige Anordnung beantragt.

„Warum müssen wir so kämpfen?“: Anwalt des kleinen Tiago aus Binsdorf schlägt Gerichtsweg ein

Tiago ist ein fröhliches Kind, das sich über Geschenke freut. Seine Eltern stellen sich immer wieder die Frage, warum sie für seine Behandlung kämpfen müssen.

Hatte sich der Jurist, der im Januar die Behandlung des ebenfalls an SMA erkrankten 22 Monate alten Kian aus Berlin mit Zolgensma juristisch durchgeboxt hat, vor Weihnachten noch sehr optimistisch angehört, klingt er nun ernüchtert. Es sei eine sehr schwierige Geschichte.

Es gibt kein Gutachten

Denn die Gespräche mit dem behandelnden Arzt brachten nicht das gewünschte Ergebnis. Das bedeutet, dass die Eltern die von der AOK als behandelnde Krankenkasse geforderte Zweitmeinung nicht liefern können.

Wie berichtet, hatte die Krankenkasse nach ihrer Absage erklärt, dass sie den Fall noch einmal prüfen werde, sofern ein ärztliches Gutachten vorliegt, das aussagt, dass eine Behandlung mit Zolgensma für den kleinen Tiago medizinisch notwendig ist. „Wir werden jetzt nicht in ganz Deutschland nach einem Arzt suchen“, sagt Stephanie des Freitas, die Mutter des kleinen Jungen.

Die Gerichte sind am Zug

Gemeinsam mit ihrem Anwalt wollen sie weiter kämpfen, und versuchen die Behandlung ihres Kindes mit dem 1,9 Millionen-Euro-teuren-Medikament gerichtlich durchzusetzen. Johannes Kaiser hat beim Sozialgericht eine einstwillige Anordnung beantragt, um eine vorläufige gerichtliche Entscheidung herbeizuführen.

Die Zeit läuft davon

Denn den Eltern läuft die Zeit davon. Die Millionenspritze, die in Deutschland noch keine Zulassung hat, wird in den Staaten Kindern bis zu zwei Jahren verabreicht. Allerdings geht es dabei um die SMA Typ 1. Der Krankheitsverlauf ist so tückisch, dass diese Kinder meist das zweite Lebensjahr nicht erreichen. Auch der kleine Kian aus Berlin leidet an der spinalen Muskelatrophie (SMA) Typ 1.

Tiago leidet an SMA Typ 2 und hat mit medizinischer Behandlung eine prognostizierte Lebenserwartung von 25 Jahren. Der kleine Lockenkopf ist am 14. Januar zwei Jahre alt geworden und sollte die Injektion mit Zolgensma, von der sich seine Eltern einen Stopp des Krankheitsverlaufes erhoffen, so schnell wie möglich erhalten.

Ab 15 Kilogramm wird es schwierig

Verbindliche Aussagen, wie viel Zeit der Familie noch bleibt, gibt es nicht. „Wenn die Kinder zu schwer werden, wird es schwierig“, sagt Tiagos Mutter. Laut Aussage der Deutschen Muskelstiftung, bei der das Spendenkonto für Tiago angelegt ist, sollten die Kinder nicht schwerer als 15 Kilogramm sein. Tiago wiegt jetzt 12,5 Kilogramm.

„Wir sind nervlich ziemlich am Ende“, sagt Stephanie de Freitas. Ihre Familie gibt aber nicht auf. Fast eine Million Euro haben die Menschen für ihren Sohn gespendet. Das ist unglaublich. Die Eltern klammern sich jetzt an zwei Hoffnungen: dass die Spendenwelle weitergeht und dass sie mit der einstwilligen Anordnung Erfolg haben werden.

Ebenso macht Stephanie de Freitas der Fall der einjährigen Hannah aus Ahrensbök bei Lübeck Mut. Das kleine Mädchen leidet wie Tiago an SMA Typ 2 und die Krankenkasse hat die Behandlung mit Zolgensma übernommen.

Sich an der Verlosung der 100 Zolgensma-Spritzen zu beteiligen, lehnen die Eltern nach wie vor ab. „Wir verstehen es nicht, warum wir so kämpfen müssen“, sagt die 31-Jährige verzweifelt. Sie findet vor allem Halt in den Gesprächen mit dem zuständigen Mitarbeiter bei der Deutschen Muskelstiftung. „Er versteht unsere Verzweiflung und unseren Kampf.“

Es gibt ein neues Medikament

Im Januar hat die Novartis-Konkurrenz Roche ein Härtefallprogramm für eine neues Medikament aufgelegt, das ebenfalls bei SMA eingesetzt wird: Risdiplam.

Wäre das eine Alternative? Nein, sagt Stephanie de Freitas. Denn dieses Medikament wirke wie Spinraza, mit dem Tiago ja behandelt wird und werde bei Babys mit Typ 1 angewendet. Es verzögere den Krankheitsverlauf; Zolgensma soll ihn stoppen. Bei der einmaligen Behandlung wird das defekte Gen durch ein funktionsfähiges ersetzt.

Es gibt wohl Engpässe in der Produktion

Novartis indes gerät wegen der „Gesundheitslotterie“, bei der noch nicht sicher ist, ob deutsche Kinder überhaupt daran teilnehmen dürfen, zunehmend in Bedrängnis.

Wie die Wirtschaftswoche im Januar schrieb, führe der Pharmakonzern die Verlosung nur deshalb durch, weil es Engpässe in der Produktion gebe. Es heißt, dass Novartis die steigende Nachfrage nach Zolgensma nicht decken kann.

Dafür spricht auch, dass die von Novartis für Anfang des Jahres angekündigte europäische Zulassung nun auf das erste Halbjahr verschoben wurde. Damit rückt auch dieser Hoffnungsanker für Tiago in weite Ferne.

Hier nochmals die Spendennummer:

Empfänger: Deutsche Muskelstiftung

IBAN: DE70 6602 0500 0008 7390 05

BIC: BFSWDE33KRL

Verwendungszweck: Tiago