Neufra

Tragödie aus dem Ersten Weltkrieg zieht Spuren bis ins ehemalige Hohenzollern

16.04.2021

Von Gudrun Stoll

Tragödie aus dem Ersten Weltkrieg zieht Spuren bis ins ehemalige Hohenzollern

© Picasa

Der Chemin des Dames (Weg der Damen) ist ein Höhenzug im Dreieck zwischen den nordostfranzösischen Städten Laon, Soissons und Reims. Der Winterberg-Tunnel war im Ersten Weltkrieg Schauplatz einer Tragödie. In ihm wurden während eines Granatangriffs über 200 Soldaten lebendig begraben.

Das Ehepaar Lorch aus Neufra hat das Schicksal eines Soldaten geklärt, der 1917 im Winterberg-Tunnel in Frankreich umgekommen ist.

Die Lorchs wohnen in Freudenweiler und wer ein Anliegen zur Heimatgeschichte hat, der holt sich bei Annemarie Lorch Rat. Die 63-Jährige stöbert so lange in Archiven, bis sie Antworten auf offene Fragen findet. „Wenn ich dran bin, will ich’s wissen“, sagt sie sehr bestimmt. Sie scheut aber das Rampenlicht, daher ergreift in der Öffentlichkeit lieber Eheman Siegfried das Wort. Der 70-Jährige Bankkaufmann im Ruhestand bezeichnet sich scherzhaft als „Schriftführer“ im gut eingespielten Team.

Recherche reicht weit über den Ort hinaus

Dessen jüngste Recherche ist so interessant, dass Neufras Bürgermeister Reinhard Traub geraten hat, die Geschichte einem breitem Bevölkerungskreis bekannt zu machen. Die Fakten reichen weit über den Ort hinaus und führen mitten hinein in eine der zahlreichen Tragödien des Ersten Weltkriegs.

Soldaten im Stellungskrieg

Im April 1917 haben sich auf dem Chemin des Dames, einem Höhenzug im Nordosten Frankreichs, die deutschen Truppen eingegraben, Grotten und unterirdische Steinbrüche zu Befehlsständen und Feldlazaretten ausgebaut. Im 250 Meter langen Winterberg-Tunnel lagern Munition und Ausrüstung. Am 4. Mai 1917 suchen 200 Soldaten des Reserve-Infanterie-Regiments 111, in dem viele Männer aus Südbaden aber auch aus dem ehemaligen Hohenzollern dienen, vor den Granateinschlägen der französischen Großoffensive Deckung unter der 20 Meter dicken Bodendecke des Winterberg-Tunnels. Sie sitzen in der Falle.

Ausgang und Lüftungslöcher sind zugeschüttet, tödliche Rauch- und Gaswolken ziehen in das Innere des Stollens, der Sauerstoff wird knapp. Einer der drei Überlebenden berichtet später vom tagelangen Todeskampf der Eingeschlossenen.

Tagelanger Todeskampf

Einer ruft nach Frau und Kindern, ein anderer nimmt Abschied von den Eltern und Geschwistern. Manche Männer erschießen sich oder bitten einen Kameraden, dies zu tun. Der Stollen wird zum Massengrab.

Tragödie aus dem Ersten Weltkrieg zieht Spuren bis ins ehemalige Hohenzollern

© Gudrun Stoll

Annemarie und Siegfried Lorch haben das Ergebnis ihrer Nachforschungen an Bürgermeister Reinhard Traub (links) weitergereicht - und hoffen auf weitere Erkenntnisse.

Nach dem Krieg war der Eingang des Tunnels nicht mehr zu finden. Zu stark hatten die Stahlgewitter den Boden verformt. Alain Malinowski, ein Franzose und Hobby-Archäologe, der in der Nähe des Tunnels aufgewachsen ist, durchstreifte mit seinen Söhnen und weiteren Helfern jahrelang das alte Schlachtfeld, schlussendlich mit Erfolg. Nachdem militärische Gegenstände gefunden wurden, schritten französische und deutsche Behörden ein.

Suche nach Eingang dauert Jahre

Im vorigen Jahr untersuchte und kartierte ein Georadar-Team aus Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und dessen französischen Partnerorganisationen ONAC und DRAC das Gelände. In diesem Jahr sollen weitere technische Untersuchungen folgen. Ob es schlussendlich zu einer Bergung der verschütteten Soldaten kommt, wollen beide Seiten in Gesprächen klären. Das Gelände wird überwacht, um Plünderungsversuchen ein Ende zu setzen.

Gedenkbuch führt auf die Alb

Doch wie laufen die Fäden vom Schlachtfeld im Norden Frankreichs ins beschauliche Freudenweiler? Das Schicksal der Soldaten beschäftigt Historiker, die nach Angehörigen suchen. Der Niederländer Mark Beirnaert erlangte in Zusammenarbeit mit dem Weltkriegs-Autor Jürgen Schmieschek im „Hohenzollerischen Gedenkbuch 1914-1918“ Kenntnis von einigen Soldaten aus dem ehemaligen Hohenzollern. Diese jungen Männer dienten im badischen Reserve-Infanterie-Regiment 111 und wurden am 5. Mai 1917 am Winterberg in Frankreich, als „gefallen“ oder „vermisst“ registriert.

In diesem Gedenkbuch sind auch ein Albert Wetzel und ein Johann Gualbert Wetzel aus Neufra gelistet. Nachdem unter den heutigen Namensträgern in Neufra niemand etwas über die Personen oder Nachfahren wusste, verwies man den Heimatforscher aus den Niederlanden an seine Kollegin Annemarie Lorch.

Die Nachforschungen im Ort erwiesen sich als schwierig. Zum einen fehlen nähere Angehörige, zum anderen gab es lange Zeit keine plausible Erklärung über den Eintrag im Gedenkbuch. Zu Hilfe kam der Hobbyforscherin eine Bilder- und Dokumentsammlung aus einem Nachlass, den sie einige Monate zuvor zur Auswertung erhalten hatte.

Der Zufall spielt mit

War es Zufall oder Schicksal? Aus diesen Dokumenten jedenfalls gewann sie wichtige Hinweise zu den Vorfahren und Verwandten. Es gab in früheren Jahren eine Familie Wetzel, nach der nun gezielt geforscht wurde. Klarheit brachten Informationen aus dem Gemeinde- und Kreisarchiv, wertvolle Erkenntnisse gewann Annemarie Lorch auch aus den Familien-Registern im Erzbischöflichen Archiv in Freiburg.

Taufregister führt auf die richtige Spur

Einiges Kopfzerbrechen bereitete der Vorname Gualbert. Lange Zeit ging die Forscherin davon aus, dass das „Gu“ ein extra Wort ist und eigentlich „Gn“ heißen müsste, also Johann gn (genannt) Albert. Letztendlich brachte sie ein Auszug aus dem Taufregister des Freiburger Archives auf die richtige Spur.

Am 12. Juli 1880 wurde in Neufra ein Kind auf den Namen Johann Gualbert getauft. In einem Heiligenverzeichnis fand sich ein Johannes Gualbertus. Es handelt sich bei diesem Heiligen um einen italienischen Ordensgründer aus dem frühen Mittelalter. Dessen Gedenktag begeht die Kirche am 12. Juli.

Name eines Heiligen

Da die Mutter des Täuflings unverheiratet war, liegt es nahe, dass man in Ermangelung von Vornamen näherer Verwandten dem Täufling den Namen dieses Heiligen gab. Da der Name nicht geläufig ist, nannte sich der Heranwachsende Albert - und dürfte im Gedenkbuch an die Gefallenen und Vermissten wohl doppelt gelistet sein: als Albert und als Gualbert. Dass an ein und demselben Tag zwei Kinder auf die Welt kommen, die Albert und Gualbert heißen, scheint unwahrscheinlich. Aus den Unterlagen der kommunalen Archive und den Kirchenbüchern konnte Annemarie Lorch dann lückenlos die Vorfahren des Johann Gualbert Wetzel in Neufra herauslesen.

Im Jahr 1942 für tot erklärt

Annemarie Lorch lässt die Frage nicht los, was wohl die Mutter des jungen Mannes durchlebt hat. Ganz sicher hat sie ihr ganzes Leben auf die Rückkehr des einzigen Kindes gewartet. Der Sohn war in diesen entbehrungsreichen Jahren gewiss ihre Absicherung. Im Familienregister der Pfarrei Neufra kann man noch gut erkennen, dass Johann Gualbert zuerst als „gefallen“ eingetragen worden ist, das „gefallen“ wurde dann überschrieben in „vermisst“ und schließlich hat der damalige Pfarrer dann im Jahre 1942 den Vermerk angebracht „für tot erklärt am 7. 1. 1942“ - die Mutter ist 1941 gestorben.

Großes mediales Interesse

Mit der Tragödie am Winterberg befassen sich zahlreiche internationale Medien. Mark Beirnaert wurde von der britischen BBC über die Recherchen interviewt. Er hat dabei auch über das Schicksal des Gualbert (Albert) Wetzel aus Neufra berichtet.

Info: Einzelne Passagen zum historischen Geschehen am Winterberg sind einem Bericht des Südkurier von Alexander Maier vom 30. 01. 2021 entnommen.

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