Prozess um Geiselnahme in Sigmaringen: Vier Jahre Haft für Angeklagten

Von Lea Irion

Das Hechinger Landgericht sah es am letzten Verhandlungstag als erwiesen an, dass der 28-jährige Asylbewerber aus Nigeria bei der Geiselnahme im Sigmaringer Landratsamt am 3. Juni vorsätzlich handelte. So recht realisieren konnte der Angeklagte das Urteil nicht.

Prozess um Geiselnahme in Sigmaringen: Vier Jahre Haft für Angeklagten

Am Montagmittag gab es ein Urteil im Sigmaringer Geiselnahme-Prozess. Die Tat ereignete sich im Juni im dortigen Landratsamt.

Einen dramatischen Charakter habe dieser Fall gehabt. Eigentlich, fand Richter Dr. Hannes Breucker, sei das gar „wie Stoff für eine Tragödie“ gewesen. Deren tragischer Held, ein 28-jähriger Asylbewerber aus Nigeria, fiel einer Verkettung dramatischer Schicksalsschläge zum Opfer – und wurde am Ende selbst zum Täter.

Am dritten und letzten Verhandlungstag des Sigmaringer Geiselnahme-Prozesses ging es abermals emotional zu. Verlesen wurde ein unscheinbares Schriftstück, das der junge Nigerianer an die Frau schickte, die er als Geisel in den Schwitzkasten nahm und mit einem scharfen Küchenmesser bedroht hatte. Es war ein Entschuldigungsbrief.

Kein Vergeben und Vergessen

Geschrieben hatte er ihn auf Englisch, per Hand. Er fragt darin mehrmals nach ihrer Gesundheit. Noch öfter bittet er die Frau um Entschuldigung. Tag und Nacht denke er an sie. Zur Tatzeit sei er in einem Schockzustand gewesen, weil, so schreibt er wörtlich, „Polizeimänner mit Waffen hinter ihm her waren“. Vielleicht finde sie ja eine Stelle in ihrem Herzen, wo sie ihm vergeben könne. Das tat die Geschädigte aber nicht.

Der Brief löste das komplette Gegenteil aus. Er beschäftigte die Betroffene so sehr, dass sie ihn therapeutisch aufarbeiten musste. Vor Gericht betonte sie im Zeugenstand, sie wolle die Entschuldigung auch gar nicht annehmen.

Damit war die Beweisaufnahme beendet. Zeugen wurden gehört, Geschehnisse aufgearbeitet. Staatsanwalt Dr. Philipp Wissmann hielt vor der Urteilsfindung sein Plädoyer.

Fassungslosigkeit beim Angeklagten

Minutiös arbeitete er darin die Geschehnisse des 3. Junis auf. Es sei die Angst vor der Abschiebung gewesen, die an diesem Tag im Angeklagten aufgekommen sein müsse. Denn beim Eintreffen der Polizeibeamten sei ihm klargeworden, dass er hier in Deutschland keine Zukunft mehr habe. „Durch die Geiselnahme wollte er die Polizisten zum Abrücken zwingen.“

Anders als vom Angeklagten geschildert seien die Beamten aber nicht mit ihren Waffen hinter ihm hergerannt. Eine Waffe wurde nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nämlich erst gezückt, als der junge Nigerianer sein Messer an den Hals seiner Geisel hielt. Schwer verletzt oder gar getötet wurde am Ende zwar niemand. „Die Folgen der Tat waren aber nicht unerheblich für alle Beteiligten“, so Wissmann.

Schweigen ist Gold

Nach dem 3. Juni investierte das Sigmaringer Landratsamt viel Geld in sicherere Büros. „Und dabei handelt es sich um eine Behörde, die zuvor offen für die Anliegen aller Menschen war.“ Die Mitarbeiter dort seien nun viel vorsichtiger, wenn jemand die Räumlichkeiten betritt. Das Opfer selbst kann nicht einmal in deren Nähe kommen, ohne posttraumatische Störungen zu erleiden.

Sein eigenes Grab geschaufelt habe sich der Asylbewerber durch die Aussage, er habe die Geisel natürlich nur genommen, damit die Polizei abrücke – und nicht um die Frau zu verletzen. Dadurch sah die Staatsanwaltschaft aber den Vorsatz der Geiselnahme als erwiesen an. Angeklagt war der junge Nigerianer zudem wegen Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Freispruch bleibt Wunschtraum

Das schwere Trauma des jungen Asylbewerbers, das er auf seiner Flucht nach Europa erlitt, wirkte sich strafmindernd aus. Trotzdem, betonte Wissmann, fängt das Strafmaß einer Geiselnahme bei fünf Jahren an.

Der Angeklagte, der wohl bis zu diesem Punkt von einem Freispruch ausgegangen war, reagierte erschüttert auf diese Anmerkung. Er stieß seinen Kopf mit einem hörbaren Knall auf den Tisch und legte seine Hände an die Schläfen, zitterte, blickte konfus umher. Er schnaufte laut, spielte energisch mit seinen Händen, ballte diese zu Fäusten.

Durch und durch ein Arbeitstier

Das Plädoyer des Staatsanwalts musste darauf für fünf Minuten unterbrochen werden. Der Angeklagte war neben seinem Tisch auf die Knie gegangen und hielt die Arme in die Luft, so als ob er nur noch wolle, dass der Prozess aufhört. Drei Polizeibeamten mussten ihn aus dem Saal führen. Wenig später wurde der Prozess fortgesetzt.

Auch der Anwalt des Angeklagten kam noch zu Wort. Albträume und Angstzustände seien nur die Spitze des Eisbergs eines Traumas gewesen, das sein Mandant seit seiner Flucht mit sich trage. „Seine Vorgeschichte ist nicht aus ihm herauszubrennen. Das sitzt einfach tief.“

„Please forgive me“

Für ihn spreche auch sein ausgeprägter Wille, einer geordneten Arbeit nachzugehen. Denn Drogen in Italien verkaufen, damit ihn die Mafia in Ruhe lässt, habe er schließlich abgelehnt. Und hier in Deutschland habe er das gearbeitet, was an ihn herangetragen wurde. „Arbeit steht für ihn an oberster Stelle.“

Laut schluchzend verkündete der Angeklagte noch, er wolle sich bei allen Anwesenden von Herzen entschuldigen. Er flehte das Gericht an, ihm zu verzeihen. „Please forgive me“ – bitte vergebt mir. Geholfen haben ihm seine Entschuldigungsversuche letztlich aber kaum.

Das Ende der Tragödie

Vier Jahre Haft urteilte die Justiz schließlich. Dr. Hannes Breucker sprach von vielen unglücklichen Zufällen, von der falschen Zeit und vom falschen Ort. „Sie sind kein Krimineller, der weitermachen wird.“ Während seiner Haft werde er therapeutische Hilfe bekommen. „Bleiben Sie arbeitswillig. Sie werden nie wieder Straftaten begehen, davon sind wir überzeugt.“

Das Ende dieser Tragödie, gar seine persönliche Katastrophe, nahm der 28-jährige Asylbewerber regelrecht apathisch zur Kenntnis. Ihm blieb das letzte Wort – davon Gebrauch machen konnte er aber nicht. „Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.“