Balingen

„Politik muss steuernd eingreifen“: der regionale AOK-Chef Klaus Knoll im Interview

21.02.2021

von Redaktion

„Politik muss steuernd eingreifen“: der regionale AOK-Chef Klaus Knoll im Interview

© AOK Neckar-Alb

Klaus Knoll, Geschäftsführer der AOK-Bezirksdirektion Neckar-Alb.

Klaus Knoll, Geschäftsführer der AOK Neckar-Alb, sieht seine Kasse für die Übernahme von Verantwortung bestraft. Bei vier großen Kassenverbänden türmt sich das Minus in der Ausgabenbilanz für 2020 auf über 2,6 Milliarden Euro. Die Perspektiven für 2022: unsicher und trüb.

Die AOK-Gemeinschaft hat das vergangene Jahr mit einem Defizit von rund einer Milliarde Euro abgeschlossen (Vorjahr: minus 120 Millionen Euro). Die sechs Ersatzkassen verbuchen ein Minus von 1,1 Milliarden Euro (2019: minus 859 Millionen Euro), bei den Innungskassen addieren sich die Ausgabenüberschüsse auf 250 Millionen Euro (2019: minus 231 Millionen Euro). Die Betriebskassen verzeichnen Ausgabenüberschüsse von 234 Millionen Euro (Vorjahr: minus 295 Millionen Euro).

Klaus Knoll, Geschäftsführer der AOK-Bezirksdirektion Neckar-Alb, gewährt Einblicke: Die spannendste Frage: Was hat sich durch die Coronapandemie verändert? Ein Interview.

Herr Knoll, die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) setzt ja vor allem auf örtliche Präsenz. Genau das ist aber in Pandemiezeiten schwierig. Wie sprechen Sie mit Ihren Versicherten?

Klaus Knoll: Während des ersten Lockdowns und auch jetzt sind unsere Geschäftsstellen für den normalen Kundenverkehr geschlossen. Für notwendige und dringende Angelegenheiten können Termine vereinbart werden. Hierfür haben wir in unseren Kundencentern und Gesundheitszentren umfassende Hygiene- und Schutzmaßnahmen installiert.

Zum Schutz unserer Versicherten, aber auch unserer Mitarbeiter ziehen wir den telefonischen oder digitalen Weg vor. Entsprechend haben sich sowohl die E-Mail-Anfragen, als auch unser Telefonvolumen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich erhöht. Im Lockdown erhält unsere zentrale Service-Hotline 25 Prozent mehr Anrufe. Davon abgesehen registrieren wir in Pandemiezeiten einen erhöhten Informationsbedarf bei unseren Versicherten, weil zu vielen Themen eine große Verunsicherung herrscht. Nehmen wir zum Beispiel das aktuelle Thema Fahrkosten zu den Impfzentren. Viele wissen noch nicht, dass wir die Fahrkosten für mobilitätseingeschränkte Versicherte zu den Impfzentren – analog den Fahrten zu einer ambulanten Behandlung – übernehmen. Darauf hatten sich die Krankenkassen in Baden-Württemberg und das Sozialministerium am 29.01.2021 verständigt.

Wie hat sich die Arbeitsweise sonst noch verändert? Bei den Krankenkassen wohl eher Mehrarbeit statt Kurzarbeit?

Das Corona-Jahr war für die gesetzlichen Krankenkassen mit sehr vielen zusätzlichen Aufgaben verbunden. Es gab eine Menge Gesetzesänderungen und Verordnungen, die uns betroffen haben. Zum Beispiel die Corona-Teststrategie, die sich monatlich geändert hat. Wir waren ein wichtiger Ansprechpartner, nicht nur für Versicherte, Arbeitgeber, Pflegeheime und Ärzte, sondern auch für Apotheken. Genauso gab es viele Rettungsschirme im vergangenen Jahr, etwa im Bereich Pflege, Rehabilitation und Krankenhaus, die zu bezahlen und dementsprechend intern zu organisieren waren.

Kurzarbeit und Stundung der Beiträge waren ein zentrales Thema für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich um unsere Firmenkunden kümmern. Auch in diesem Jahr hält uns Corona auf Trab: Da wären der Couponversand für die FFP2-Masken und das erweiterte Kinderkrankengeld zu nennen.

Wie viele Mütter und Väter haben sich pandemiebedingt krankschreiben lassen, um die Kinder zu betreuen?

Die AOK Neckar-Alb hat Stand Anfang Februar etwa 400 Anträge für erweitertes Kinderkrankengeld erhalten, jeden Tag werden es aber mehr. Mit unserem Erfassungssystem sind wir in der Lage, dass wir das Kinderkrankengeld – sobald die Entgeltdaten des Arbeitgebers übermittelt wurden – zügig an die Antragsteller auszahlen können.

Dass man sich wegen „Betreuung aufgrund Pandemie“ krankschreiben lassen kann, ist ein Novum in Ihrer Datenstatistik, oder? Welche Veränderungen gab es bei den Krankschreibungen sonst noch im Coronajahr 2020?

In der Tat sehen unsere Arbeitsunfähigkeits-Daten für die Region seit dem ersten Lockdown anders aus. Vergleicht man die Daten ab Mitte März 2020 mit den Vorjahren (2017-2019), ist ein deutlicher Rückgang von bis zu 43 Prozent der typischen Infektionskrankheiten zu sehen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren also wegen Erkältungsdiagnosen oder Magen-Darm-Erkrankungen sehr viel weniger krankgeschrieben.

Das ist sicherlich den pandemiebedingten Hygienemaßnahmen geschuldet und zeigt, dass Maske tragen, Abstand halten oder mehr Homeoffice auch bei anderen Krankheiten wirkt. Auffällig ist auch der Rückgang um 19 Prozent bei orthopädischen Diagnosen wie Handgelenksverletzungen, Verletzungen der Knöchelregion und des Fußes oder der Schulter. Ursache hierfür könnte sein, dass durch Corona weniger Freizeit- und Vereinssport getrieben wurde und also Verletzungen hierbei ausgeblieben sind.

Die Pandemie ist noch nicht überstanden, auch finanziell nicht. Von den gesetzlichen Kassen hat ein Großteil ihre Beiträge bereits erhöht. Wie wird es hier weitergehen?

Von der Bundesregierung wurde ein Maßnahmenpaket verabschiedet, um das Defizit von mehr als 16 Milliarden Euro, das durch die finanziellen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und den jüngst verabschiedeten kostenträchtigen Gesetzen im Gesundheitswesen entstanden ist, zu finanzieren. Darin enthalten ist unter anderem ein Rückgriff auf die Rücklagen der Krankenkassen in Höhe von 8 Milliarden Euro.

Für die AOK Baden-Württemberg bedeutet das konkret, dass sie über 600 Millionen Euro aus ihren Reserven zur Deckung der Finanzlücke abliefern muss. Diese Gelder können wir jetzt nicht mehr – wie ursprünglich geplant – für eine qualitätsgesicherte exzellente Versorgung unserer Versicherten und für einen längerfristig stabilen Zusatzbeitragssatz einsetzen.

Daraus folgern Sie was?

Wir werden jetzt für unser verantwortungsvolles und vorausschauendes Handeln bestraft. So ein Griff in die Rücklagen der Krankenkassen ist allerdings nur ein Mal möglich, denn dann ist das Geld weg. Insofern mache ich mir große Sorgen über die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in den kommenden Jahren. Wenn die Politik nicht spätestens direkt nach der Bundestagswahl dringend notwendige Steuerungsmaßnahmen ergreift, prognostiziere ich für das Jahr 2022 eine Verdoppelung der Zusatzbeitragssätze auf ein Niveau von ca. 2,5 Prozent über alle Krankenkassen hinweg.

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