Zollernalbkreis

„Menschlich geht es an die Substanz“: die Chefin des Gesundheitsamts im Interview

02.04.2021

Von Michael Würz

„Menschlich geht es an die Substanz“: die Chefin des Gesundheitsamts im Interview

© Michael Würz

Dr. Gabriele Wagner.

Wenn sie anrufen, ist die Quarantäne-Anordnung oft nicht weit: Seit einem Jahr jagen die Mitarbeiter im Gesundheitsamt dem Virus hinterher, verfolgen Kontakte und unterbrechen so gefährliche Infektionsketten. Doch nicht nur die Chefin fragt: Wie halten die Kollegen das eigentlich durch? Ein Gespräch über Momente der Verzweiflung, des Respekts und ein Osterfest inmitten der dritten Corona-Welle.

Die Zahlen steigen, die Pandemie-Müdigkeit auch. Und mit der Politik hadern alle: Diejenigen, die ihr angesichts der aktuellen Entwicklung Untätigkeit vorwerfen genauso wie diejenigen, denen die Maßnahmen zu weit gehen. Mittendrin: die Corona-Ermittler im Gesundheitsamt. Sie geben alles, um das Ausbruchsgeschehen im Zollernalbkreis unter Kontrolle zu halten – und wundern sich über Mallorca-Flieger, sagt die Leiterin, Dr. Gabriele Wagner.

Frau Wagner, Sie stehen mit Ihren Kolleginnen und Kollegen seit einem Jahr im Dauerdienst. Wie geht es Ihnen?

Menschlich geht es uns mittlerweile allen schon sehr an die Substanz. Ich wundere mich, wie die Kollegen noch immer durchhalten.

Was hat sich im Gesundheitsamt seit Beginn der Pandemie verändert?

Wir machen fast nichts anderes mehr außer Corona. An Dinge wie Einschulungsuntersuchungen ist gar nicht zu denken. Die Zahl der Mitarbeiter hat sich mehr als verdoppelt. Es sind jetzt 45, und erneut kommen gerade drei weitere neue hinzu. Außerdem sind mehrere Kollegen aus anderen Abteilungen des Landratsamts in der Kontaktnachverfolgung ausgebildet. Wenn die Zahlen jetzt weiter so hochgehen, würden sie uns auch wieder unterstützen. Das läuft hier sehr gut.

In der öffentlichen Wahrnehmung führte der Gesundheitsdienst bis zur Pandemie eher ein Schattendasein . . .

Das hat sich komplett geändert. Ich habe den Eindruck, dass ein gewisser Respekt entstanden ist. Übrigens auch in der Ärzteschaft: Junge Ärzte interessieren sich plötzlich für die Arbeit im Gesundheitsamt. Wie wichtig die Arbeit ist, war vor der Pandemie nicht so bekannt.

Viele leiden unter der Situation, psychisch, wirtschaftlich. Bekommen Sie die Corona-Müdigkeit zu spüren?

Erst neulich wurde eine Kollegin übel beschimpft, weil sie jemanden in Quarantäne schicken musste. Im Großen und Ganzen muss man allerdings sagen, dass die Leute vernünftig damit umgehen. Man muss ja auch sehen: Uns macht das auch keinen Spaß. Ich wünschte sehr, es wäre vorbei. Endlich mal wieder Normalität, das täte uns allen gut.

Woran verzweifeln Sie?

Also: Dass Urlaubsflieger nach Mallorca starten, geht den Kollegen nahe. Da herrschte bei uns schon emotionale Verzweiflung. Der Eindruck war: Alle fliegen jetzt nach Malle, während wir hier durcharbeiten und die Pandemie bekämpfen. Es war wirklich schwer, da wieder Motivation ins Team zu kriegen. Aber wir ringen auch mit ständig neuen Rechtsvorschriften. Es wird immer komplexer und ich sehe das als riesiges Problem, dass man da als Bürger nicht mehr durchblickt.

Halten sich die Menschen Ihrer Erfahrung nach noch an die Regeln?

Sagen wir so: Würden sich alle streng an die Regeln halten, hätten wir quasi nichts mehr zu tun.

Wo stecken sich die Menschen im Zollernalbkreis an? Welche Rolle spielen Kitas, Schulen, Unternehmen?

Das ist noch immer sehr schwer zu beantworten. Wir wissen einfach oft nicht, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. Die Frage ist, zum Beispiel: Bringt ein Kind Corona aus der Schule mit nach Hause, infiziert seine Eltern, die es daraufhin an den Arbeitsplatz tragen? Oder war es andersrum? Ich habe den Eindruck, dass die meisten Unternehmen bei uns sehr aufpassen, schon aus Eigeninteresse. Es gibt deshalb auch nicht die Ausbrüche quer durch große Unternehmen. Wir sehen aber, dass es Fälle innerhalb von einzelnen Abteilungen der Unternehmen gibt. Das ist wohl oft das Vesper ohne Maske, aber auch die Fahrgemeinschaft.

Was bedeuten Ausbrüche in Schulen für die Kontaktnachverfolgung?

Generell sind die Schulen in letzter Zeit ein riesiger Aufwand für uns, wegen der vielen Kontaktpersonen. Da kommt es auch zu Beschwerden, wenn wir einmal nicht mehr sofort hinterherkommen mit der Kontaktnachverfolgung. Gerade am Wochenende müssen wir aber auch Mitarbeiter rausnehmen, das packen wir sonst ganz einfach nicht. Was man sagen muss: Die Abläufe bei Corona-Fällen in Schulen und Kindergärten sind inzwischen sehr routiniert, da funktioniert auch die Zusammenarbeit wirklich gut.

Die Software Sormas soll die Kontaktnachverfolgung im Gesundheitsamt erleichtern. Ist sie der Heilsbringer?

Sormas ist grundsätzlich gut, wenn es das kann, was es verspricht. Denn bei der Vielzahl an Sachbearbeitern können wir nicht sicherstellen, dass uns sofort auffällt, wenn jemand an verschiedenen Ecken immer wieder als Kontaktperson aufploppt. Sormas führt die Daten zusammen und würde sofort Alarm schlagen, dass es hier Superspreader-Potenzial gibt. Wir haben die Software bereits im Herbst ausprobiert, den Test aber aus technischen Gründen abgebrochen: Die Schnittstelle funktionierte einfach noch nicht richtig. Jetzt aber stehen wir ganz aktuell vor der Einführung. Ein weiterer Vorteil von Sormas: Die Software ist viel leichter zu erlernen als unser altes System. Gerade für neue Mitarbeiter ist das natürlich ein großer Vorteil.

Auch die Luca-App steht in Baden-Württemberg in den Startlöchern.

Generell ist Sormas die Bedingung, um die Luca-App einsetzen zu können. Auch hier muss man aber im Detail genau hinschauen. Ich finde die Zettelwirtschaft in der Gastronomie zum Beispiel auch nicht gut. Hier könnte, gerade wenn es um Öffnungen geht, die Luca-App Erleichterung bringen. Ich stelle mir vor, dass das im Sommer Hoffnungen machen kann, wenn wir an Biergärten oder ähnliches denken. Die App wird sicher auch dagegen helfen, dass Leute vergessen, wo sie im Einzelnen die vergangenen Tage waren. Allerdings gibt es auch noch offene Fragen aus meiner Sicht: Wir wissen noch nicht, wie wirklich präzise die Daten sind, die wir aus der App bekommen, und was uns da dann wirklich erreicht.

Die Stimmen derer, die ein Modellprojekt wie in Tübingen fordern, mehren sich auch im Zollernalbkreis. Wie blicken Sie auf dieses Thema?

Zuerst einmal habe ich mich darüber geärgert. Auch da ist der Eindruck: Wir hier am Sonntag im Amt, mit der Pandemie, und draußen scheint das Shoppen die größte Priorität zu haben. Aber natürlich verstehe ich auf der anderen Seite den Wunsch nach Normalität. Wie gesagt: Das geht mir selbst ja auch so. Solche Modelle können dann sinnvoll sein, wenn es wirklich um Öffnungen geht. Ein Problem in Tübingen war allein schon, dass viel zu viele Leute von außerhalb kamen. Wenn man sich anschaut, woher die Menschen kamen, ob aus Reutlingen oder gar aus München, frage ich mich: Welche Daten werden dort eigentlich erhoben? Bekommt Boris Palmer die genauen Auswirkungen des Projekts überhaupt mit? Meine persönliche Meinung ist darüber hinaus: Die Kosten für Schnelltests, um zu shoppen, sollten nicht von der Allgemeinheit getragen werden. Wer sie nutzen möchte, sollte selbst dafür aufkommen.

Dass aber nun generell viel getestet wird, ist eine gute Entwicklung?

Wir haben zum Beispiel bei der Weihnachtstest-Aktion des DRK gesehen, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung unwissentlich das Virus in sich trägt. Das heißt, so kann man das verständlich erklären: Es sind im Zollernalbkreis um die 2000 Menschen unterwegs, die möglicherweise infektiös sind, ohne es zu wissen. Daher ist es grundsätzlich auf jeden Fall gut, dass viele Schnelltests gemacht werden. Zugleich muss man sich aber klarmachen, dass die Spezifität der neuen Tests nicht mehr ganz so gut ist. Ob das Ergebnis korrekt ist, hängt auch ganz stark davon ab, ob die Probenahme ordnungsgemäß durchgeführt wird. Wichtig dabei zu wissen ist auch: Ein Schnelltest ist nur eine absolute Momentaufnahme. Übrigens: In die offiziellen Fallzahlen des Landkreises fließen ausschließlich die positiven Ergebnisse der PCR-Tests aus dem Labor ein. Die Ergebnisse der Schnelltests nicht. Da gibt es manchmal Missverständnisse.

Selbsttest, Schnelltest, PCR-Tests, ständig neue Vorschriften: Wer im Detail informiert sein möchte, muss die Tiefen der Corona-Verordnungen studieren. Wo knirscht es aus Ihrer Sicht besonders?

Die neue Verordnung für die Absonderung ist zum Beispiel sehr komplex. Sie verpflichtet jeden, der keine Symptome hat, aber ein positives Ergebnis im Selbsttest, unverzüglich auch einen Schnelltest zu machen. Zwar dürften das die meisten ohnehin machen. Dass es aber Pflicht ist, dürfte nicht weithin bekannt sein. Arbeitsintensiv sind für uns im Gesundheitsamt auch die Regelungen für die Absonderung. Wer etwa positiv auf die britische Variante B 1.1.7 getestet wurde, muss 14 Tage in Quarantäne. Wer sich hingegen nicht mit einer Mutante infiziert hat, nur 10 Tage. Das Problem dabei: Wir bekommen nur in ersterem Falle eine Mitteilung. Dementsprechend müssen wir von Hand heraussuchen, bei wem die Absonderung nach 10 Tagen wieder aufgehoben werden kann. Das ist alles mit wahnsinnig viel Aufwand verbunden.

Die als ansteckender und gefährlicher geltende Variante B 1.1.7 dominiert nun auch im Zollernalbkreis das Geschehen. Was bedeutet das für die Ostertage?

Es ist grundsätzlich gut, dass viele, die Besuche einplanen, jetzt Schnelltests machen. Generell gilt: Treffen in der Familie sollten aber am besten wirklich nur im Freien stattfinden, auf der Terrasse oder dem Balkon – auch dann, wenn es die kommenden Tage wieder etwas frischer wird. Im Zweifel gilt: Lieber eine Jacke mehr anziehen. Bei Treffen in Innenräumen ist ganz wichtig: Lüften, lüften, lüften. Am besten alle Fenster wagenweit auf. Und natürlich auf die ohnehin üblichen Regeln achten, vor allem: Abstand halten.

Aus der Statistik: Corona trifft jetzt die Jungen im Zollernalbkreis

Die Verteilung der Coronafälle hat sich auch im Zollernalbkreis gewandelt: Gab es in der letzten Woche des Jahres 2020 nur fünf Fälle bei den unter 14-Jährigen, so zählte das Landratsamt in dieser Gruppe Ende März 32 Fälle.

Auch die Gruppe der 50 bis 59-Jährigen scheint stärker betroffen: Hier zählte das Landratsamt zuletzt 58 Fälle, Ende 2020 waren es 45. Genau entgegengesetzt zeigt sich das Bild in der Altersgruppe der 80 bis 89-Jährigen. Hier zählte das Landratsamt Ende 2020 36 Fälle, Ende März gerade mal noch drei Fälle.

Unterdessen steigt auch der Anteil der Mutanten im Zollernalbkreis stark an. „Wir sind voll dabei, es wird immer mehr“, sagt Dr. Gabriele Wagner. „Auf dem Land nur vielleicht etwas langsamer.“

Eine Frage, die häufig auftaucht: Sind sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen gefährdeter? „Das können wir schwer einschätzen“, sagt Wagner. „So genau sehen wir meist nicht in die Familien der Betroffenen.“

Was man aber sagen könne: „Unter Migranten gibt es keine besonderen Auffälligkeiten.“ Zwar sei vorstellbar, dass etwa Sprachprobleme das Verständnis von Corona-Regeln erschwerten, findet Wagner. „Dass wir besonders häufig mit Migranten zu tun haben, können wir im Zollernalbkreis aber absolut nicht sagen.“

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