Kreisarchivar schreibt Buch über das KZ Dautmergen: Überlebenskampf in der Teufelsmühle

Von Rosalinde Conzelmann

„Sie können nun selbst entscheiden, ob diese neun Monate nur ein Vogelschiss waren“ – mit diesen Worten entließ Kreisarchivar Dr. Andreas Zekorn am Dienstagabend seine erschütterten Zuhörer. Der Historiker stellte sein Buch „Todesfabrik KZ Dautmergen“ im Landratsamt vor – mit beängstigenden Bezügen zur aktuellen deutschen Politik.

Kreisarchivar schreibt Buch über das KZ Dautmergen: Überlebenskampf in der Teufelsmühle

Nach der Buchvorstellung blieben noch viele zum Austausch (von rechts): Professor Dr. Reinhold Weber, Abteilungsleiter Schriften zur politischen Landeskunde, Lothar Frick, Direktor der lpb, Dr. Andreas Zekorn, Patrizia Bieber, Landrat Pauli und Cordula Bieber.

In den Gedichten des polnischen Schriftstellers und Häftlings Tadeusz Borowski, der das Dautmerger KZ überlebte, liegt der Ursprung des Buches. Borowskis Schilderungen waren für den Kreisarchivar der Auslöser, die Geschichte des Dautmerger Konzentrationslagers des Unternehmens „Wüste“ zu erforschen und aufzuschreiben.

Mit Gewehrkolben haben sie ihn totgeschlagen

„Zunächst hoben wir Gräben aus und da waren wir zu viert: ein Belgier, ein Franzose, ein Norweger und ich. Wir marschierten zusammen in einer Reihe, bis während eines Schneesturms die Reihe auseinander gerissen wurde, der Belgier hatte keine Kraft mehr, weiter zu gehen: Mit Gewehrkolben haben sie ihn totgeschlagen“.

Mit dieser Strophe aus dem Gedicht „Die Wolken kreisten um den Berg“ eröffnet Dr. Zekorn seine Rede.

Zuvor haben die Musikerinnen Patrizia Bieber (Violine) und Cordula Bieber (Klavier) mit Ausschnitten aus dem Violinkonzert D-Dur des österreichischen Komponisten und Juden Erich Wolfgang Korngold den Abend auf beeindruckende Weise eröffnet.

Landrat Günther-Martin Pauli begrüßt die rund 100 Zuhörer im Sitzungssaal und erinnert daran, dass es im Zollernalbkreis drei KZ-Friedhöfe gibt: Bisingen, Schörzingen und Dautmergen. Dort sind 3400 Tote bestattet.

Ein Beitrag zur Versöhnung

„Wenn wir aus der Geschichte eine Lehre ziehen wollen, müssen wir das demokratische Miteinander auffrischen“, sagt der Landrat und ist mittendrin im Hier und Jetzt. In einer Zeit, in der sich rechtes Gedankengut wieder in den Köpfen ausbreitet. Paulis Forderung: „Wir müssen uns der Vergangenheit stellen.“

Das Werk über das KZ Dautmergen stelle einen Beitrag zur Versöhnung dar und sei ein Andenken an die Opfer.

lpb ist Herausgeber

Die Landeszentrale für politische Bildung (lpb) ist Herausgeber des Buches, in dem zahlreiche neue Erkenntnisse aufgearbeitet wurden und dass in der Reihe Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs erscheint.

Lothar Frick leitet die Landeszentrale für politische Bildung seit 15 Jahren. Aktueller hätte eine Buchvorstellung seiner Meinung nach nicht sein können.

Warum? Weil es zum 71. Jahrestag der Reichspogromnacht nicht mehr weit ist. Weil beim Anschlag von Halle zwei Menschen starben und viele Juden hätten getötet werden sollen.

Weil jeder vierte Erwachsene in Deutschland antisemitisches Gedankengut verbreitet. Weil das Wahlergebnis in Thüringen aufschreckt. Weil die Leitfiguren der AfD die Vergangenheit verzerren.

Geschichte darf sich nicht wiederholen

Die Geschichte darf sich nicht wiederholen, sagt Frick. Er fordert alle auf, Stellung zu beziehen. Das Grundgesetz und die Menschenrechte seien nicht verhandelbar. Die Demokratie verlange und benötige Unterstützung, nicht Neutralität. Wahrhafte Demokraten würden sich offen mit ihrer Geschichte auseinandersetzen.

„Seien wir froh, dass wir in einem freien Land leben“, meint er und spricht vom Dritten Reich als den zwölf schlimmsten Jahren der deutschen Vergangenheit.

Namen dürfen nicht ausgelöscht werden

Umso wichtiger sei es heute, dass die Namen und die Geschichten nicht ausgelöscht würden. Die Erinnerungskultur benötige einen festen Platz in unserem Land. „Deshalb müssen wir weiter forschen.“ Das Buch fülle eine große Lücke, meint Frick und spricht dem Autoren ein großes Lob aus: „Es ist bestens recherchiert, gut geschrieben und wissenschaftlich fundiert.“

Das KZ Dautmergen war eines von insgesamt sieben Konzentrationslagern, die dem mörderischen Unternehmen „Wüste“ dienten, bei dem im großen Stil aus Ölschiefer Öl für die Rüstungsproduktion des NS-Regimes gewonnen wurde.

In den sieben Lagern schufteten ab Juni/Juli 1944 über 12.000 Häftlinge; weit mehr als 3500 starben oder wurden ermordet.

Dr. Zekorn erzählt, wie irrwitzig das Ganze war. Die DÖLF, die Deutsche Ölschieferforschungsgesellschaft, die die „Wüste“-Werke leitete, blendete die kargen Produktionsergebnisse einfach aus.

Aus 96 Tonnen Gestein eine Tonne Öl

Aus 96 Tonnen Gestein gewann man eine Tonne kaum verwertbares Schieferöl. „Viel schlimmer aber ist es, dass unzählige Menschen für den Abbau geopfert wurden“, führt er aus und kommt wieder auf Borowski zurück, der das KZ als Teufelsmühle bezeichnet hat. Ein anderer Häftling habe von der Hölle berichtet.

Im Buch werden auch die Lagerstruktur und die Hierarchien beschrieben. Zekorn berichtet von SS-Untersturmführer Stefan Kruth, der „Gott des Lagers“. Es habe Sadisten gegeben sowohl unter den Häftlingen als auch beim Wachpersonal.

Aber auch jene, die versuchten die Not der Insassen zu lindern. Die Hälftlinge bildeten keine homogene Truppe. „Die Kapos waren oft ebenso grausam wie die Wächter“, teilt er seinen Zuhörern mit. Erschütternd ein weiteres Ergebnis seiner Forschungen: „Der Überlebenskampf konnte sogar zum Kannibalismus führen.“

Es herrschte Verblendung

Bedrückend sei auch das Thema Schuld, das die Wissenschaftler, die in der Ölschieferproduktion tätig waren, auf sich geladen hätten: „Hier herrschte weiter Verblendung.“

Die französischen Besatzer führten die Produktion fort und legten sie am 1. Dezember 1949 still.

Auch die Aufarbeitung der Verbrechen ist in dem Werk dokumentiert. Oftmals endeten die Gerichtsverfahren mit geringen Strafen für die Folterer und Mörder. Einer davon, Freiherr Hans Joachim von Kruedener, SS-Obersturmführer und Hauptmann, entwischte gänzlich straflos, weiß Zekorn.

Mord verjährt nicht

Neun Monate war das KZ Dautmergen in Betrieb. „Mord verjährt nicht“, sagt der Historiker, der allen für die Unterstützung dankt. Die Forschungsarbeit sei noch lange nicht am Ende.

„Warum schreibe ich darüber? Mit den drei Kameraden na ja – kann ich nicht mehr weiter und schaue auf den weiten Berg? Liebe und Hass, Tod und Leben gibt es nicht. Es gibt nur die ruhige Erde, und in ihr – den Körper eines Menschen.“

Mit diesen Worten, der letzten Strophe des Gedichts „Die Wolken kreisten um den Berg“ schließt Zekorn seine Rede. Langer Applaus brandet auf.