„Jenseits des schlechten Gewissens“ – NS-Historien-Projekt in Engstlatt ist nahezu vollendet

Von Klaus Irion

Sieben Schilder mit fast unscheinbaren QR-Codes. Angebracht an sieben Stationen im Engstlatter Ried, nordöstlich des Ortszentrums des Balinger Teilorts. Lokale NS-Historie, aber ganz bewusst ohne erhobenen Zeigefinger. „Erdkunde/souvenirs“ ist der Titel dieses hörbar gemachten Geschichtsprojekts – eine Kooperation des Vereins Gedenkstätten KZ Bisingen, des Museums Bisingen und des Balinger „Arbeitskreises Wüste“.

„Jenseits des schlechten Gewissens“ – NS-Historien-Projekt in Engstlatt ist nahezu vollendet

Die Trafostation im Engstlatter Ried ist das letzte bauliche Relikt des dortigen Teils des Nazi-Unternehmens Wüste.

Der Kriegsgefangene vollkommen entmenschlicht, auf eine schlimmstenfalls bis zum Tod schuftende Nummer reduziert. Wie anders lässt sich folgende „Bekanntmachung“ des Bürgermeisters der Gemeinde Engstlatt vom 4. Oktober 1944 deuten.

„Besondere Ausländer“

„Die Verwendung besonderer Ausländer macht die Absperrung des Baugeländes erforderlich. Grundstücksbesitzer können das Baugelände nur noch durch den Weg der Bahnunterführung unter Mitnahme einer Kenntniskarte oder Ausweises betreten. Wer die um das Baugelände aufgestellte Postenkette an einer anderen Stelle durchschreitet, wird ohne Anruf erschossen.“

Die Bahnunterführung hinaus in die Felder des Engstlatter Rieds existiert heute noch. Einmal durchschritten oder durchfahren, fällt der Blick sogleich auf die Gedenkstelen, die vor einigen Jahren am Frommerner Schiefersee, auf dem Erzinger Hungerberg und eben im Engstlatter Ried aufgestellt worden waren. Zum Gedenken an die Grausamkeiten des Nazi-Unternehmens Wüste, bei dem – außerhalb der Arbeitszeit in Konzentrationslagern eingesperrte – Kriegsgefangene im heutigen Zollernalbkreis aus Schiefer Öl als Treibstoff zu gewinnen hatten.

Im pflanzlich Verborgenen

Während man in Bisingen und Frommern heute noch deutlich sichtbarer, baulicher Relikte des damaligen Grauens offenbar wird, liegen die Spuren in Erzingen und Engstlatt weitestgehend im pflanzlich Verborgenen. So erinnert auch nur noch eine von weitem kaum erkennbare Trafostation im Engstlatter Ried an das Ende des 2. Weltkriegs dort Vorgefallene.

Ohrenzeuge lokaler NS-Geschichte

Doch wer die Trafostation gefunden hat, wird seit vergangenem Oktober Ohrenzeuge der lokalen NS-Geschichte. „Täterlandschaft – Opfergelände“ lautet der Titel des dortigen Kapitels. Um es anzuhören, benötigt man wie bei den weiteren fünf Stationen im Engstlatter Ried ein Smartphone samt heruntergeladener QR-Code-App.

Umfangreicher Flyer

Einmal eingescannt „hörst Du Erinnerungen, Fragmente, Überbleibsel, die im Gedächtnis jener Menschen bleiben, die hier waren“. So steht es im umfangreichen Flyer, der den Menschen aus Engstlatt, aus Balingen, aus dem Zollernalbkreis und natürlich darüber hinaus fachliche und geschichtliche Hintergründe zum Projekt bietet. Erhältlich ist er bei der Engstlatter Ortsverwaltung, aber auch in der Metzgerei Wengert und in der Bäckerei Koch.

Zu hören sind Textpassagen und Interview-Sequenzen einstiger Kriegsgefangener und Zeitzeugen, aber auch eingesprochene Texte von Frauen und Männern, die Bezug zu Engstlatt haben. Allen voran der erfolgreiche deutsche Schauspieler Sascha Gersak, der aus Engstlatt stammt.

Eine Station fehlt noch

Neben der Trafostation wird der geschichtliche Rundgang durchs Ried am Bahndurchlass, an der Dehnhalde, an einer Feldhütte, an einer Sitzbank und am ehemaligen Abbaufeld erhörbar gemacht. „Die siebte und letzte Station an den Gedenkstelen selbst, kommt dann noch im Juli hinzu“, sagt Dr. Karl Kleinbach federführender Mitinitiator des Geschichtsprojekts.

„Kein Schuldimpuls“

„Wir wollen den Engstlatter Part des bizarren Unternehmens Wüste in Erinnerung bringen – und dies jenseits des schlechten Gewissens für die Zuhörer“, so Kleinbach. Der Gedenkrundgang mit seinen Hörstationen soll „keinen Schuldimpuls“ hervorrufen, vielmehr „eine niederschwellige Möglichkeit sein, über diesen Teil lokaler Geschichte miteinander ins Gespräch zu kommen“.

Hinweise von Einheimischen

Geht es nach Kleinbach und dem Leiter des Balinger Arbeitskreises Wüste, Dr. Michael Walther, sollen sich die Engstlatter „als Teil ihrer Geschichte erkennen“. Ein Umstand, der laut dem einst in den Balinger Teilort gezogenen Kleinbach vor einigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen wäre. „Inzwischen aber bekomme ich auch immer wieder einmal Hinweise und Informationen von alteingesessenen Engstlattern, was damals im Ried geschehen ist.“

Exkursion vor der Haustür

Während die letzten Zeitzeugen also ihre eigenen Erfahrungen hinterlassen, sollen vor allem auch die jungen Menschen vor Ort Eindrücke über die lokale NS-Historie sammmeln. „Seit Jahrzehnten ist es an Balinger Schulen Usus, das Thema Nationalsozialismus unter anderem mit einer Exkursion ins KZ Dachau zu veranschaulichen.“ Dabei liege doch alles auch vor der eigenen Haustür, auf dem Gedenkpfad in Dormettingen, in der Gedenkstätte und auf dem Gedenkpfad in Bisingen – und seit wenigen Monaten eben auch auf dem erhörbaren Rundgang durchs Engstlatter Ried mit dem Titel „Erdkunde/souvenirs“, betont Kleinbach.

Dieser ungewöhnliche Projektname hat seinen Ursprung in der eingangs erwähnten quasi Unsichtbarkeit des Engstlatter Teils des „Unternehmens Wüste“ in heutiger Zeit. Wenn, abgesehen von der Trafostation, Relikte zum Vorschein kommen, dann sind es Gleisnägel oder Werkzeuge, die beim Pflügen der Äcker ans Tageslicht befördert werden.

Kooperation mit Uni Tübingen

Die Projektleiter kooperieren in diesem Zusammenhang mit angehenden Archäologen der Uni Tübingen. „Eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit“, wie Kleinbach und Walther unisono betonen. Die Fundstücke aus dem Erdreich sollen gesammelt und im Umkreis der Gedenkstelen ausgestellt werden. Eine von verschiedenen Möglichkeiten, über die derzeit diskutiert wird, wäre, sie dort wieder in den Boden einzulassen, darüber aber ein Gitter zu platzieren, sodass die stummen Zeugen des Unternehmens-Wüste-Grauens für die Nachwelt sichtbar bleiben.