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Im Meßstetter Ankunftszentrum herrscht keine heile Welt, aber an den Gerüchten ist nichts dran

Von Gudrun Stoll

Harald Fritz trug vor gut einem Jahr noch die Polizeiuniform, als er Meßstettens Gemeinderäte über die Sicherheitslage in der Stadt informierte. Mittlerweile ist der Pensionär Beauftragter der Stadt Meßstetten für das Ankunftszentrum Ukraine. Das war, wie Bürgermeister Frank Schroft betont, nicht nur die richtige Entscheidung, sondern ein regelrechter Glücksgriff.

Aktuell leben im Ankunftszentrum Ukraine 772 Flüchtlinge, darunter viele Kinder.

Auf Wunsch des Gemeinderates informierte der 61-Jährige in der Sitzung am Donnerstagabend über die aktuelle Lage im Ankunftszentrum Ukraine. Der Polizeihauptkommissar im Ruhestand gewährte einen unverfälschten Blick hinter die Kulissen einer Einrichtung, in der Menschen eine vorübergehende Bleibe gefunden haben, die vor dem Bombenhagel der russischen Armee geflüchtet sind, Haus, Hof und Familienmitglieder zurück lassen mussten und vielfach nicht wissen, ob sie nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehren können.

In die Seelen kann niemand schauen

Es gebe viele schlimme Schicksale. Er kenne Menschen, deren Existenz zerstört sei. In Meßstetten sind auch Geflüchete angekommen, die das Grauen von Mariupol überlebt haben oder aus Regionen stammen, in denen es kaum noch Wasser oder Strom gab. Wie schwer ihre Seelen verletzt sind, lasse sich nur erahnen.

Im Land leben 115.000 Ukrainer

Harald Fritz leitete seinen Lagebericht mit Zahlen ein. Baden-Württemberg sei bemüht, die aktuell im Land lebenden 115.000 Ukrainer in einem ausgewogenen Verhältnis auf die Stadt- und Landkreise zu verteilen. Vor gut drei Monaten wurde das Ankunftszentrum Ukraine auf dem ehemaligen Kasernengelände eingerichtet. Seither wurden insgesamt 2064 Menschen aufgenommen und über 1000 Personen in andere Landkreise transferiert.

Die Gesamtbewohnerzahl am Donnerstag, 23. Juni, lag bei 772. Von ihnen werden 474 anderen Landkreisen zugewiesen. Im Ankunftszentrum (AZ) befinden sich aktuell 298 Personen, welche auf die Kommunen im Zollernalbkreis verteilt werden. Das AZ, so Harald Fritz, diene praktisch als Puffer, bis die Gemeinden Wohnraum zur Verfügung stellen können.

Meßstetten muss 85 Menschen aufnehmen

Mit Stand vom 17. Juni, fuhr Harald Fritz in seiner Statistik fort, wohnten bereits 1268 ukrainische Staatsbürger im Zollernalbkreis. Was die konkrete Meßstetter Quote angeht, nannte er eine Zahl von 85 Menschen, welche die Stadt aufnehmen sollte. Tatsächlich würden im Kernort und in den Stadteilen bereits 35 Ukrainer und Ukrainerinnen wohnen, die bei Verwandten und Bekannten untergekommen sind. Weiteren 35 Geflüchteten habe er eine Wohnung vermittelt.

Neiddebatte keimt auf

Diese Unterkünfte habe die Stadt Meßstetten angeboten, hob Harald Fritz ganz deutlich hervor. Nicht ohne Grund, denn auch in Meßstetten kursieren Gerüchte und gedeiht der Nährboden für eine Neiddebatte um Sozialleistungen und Bevorzugung, der Fritz entschieden entgegen tritt. Die Wohnungen seien nicht vom Markt rekrutiert. Vielmehr hätte Hausbesitzer Partykeller umfunktioniert und Einliegerwohnungen nutzbar gemacht. Aktuell könne er nur noch eine Wohnung vermitteln, dann werde das Angebot knapp.

Netzwerker und Ansprechpartner

Der ehemalige Polizist ist seit vielen Jahren ein Netzwerker, pflegt enge und gute Kontakte zu Behörden, Ämtern und Menschen, arbeitet unter anderem ehrenamlich für den Weißen Ring. Als im Frühjahr bekannt wurde, dass Geflüchtete aus der Ukraine in die ehemalige Zollernalbkaserne ziehen werden, zögerte der Pensionär nicht lange und bot seine Hilfe an. Als Beauftragter der Stadt Meßstetten ist Harald Fritz Ansprechpartner für Landratsamt und Regierungspräsidium Tübingen und hält draußen auf dem Geißbühl den Kontakt zu den Ehreamtlichen und den Ankommenden aus dem vom Krieg gebeutelten und zerstörten Land.

Fünf Wochen Intensivkurs Deutsch

Zwei Ärzte, vier Krankenschwestern und Pfleger, drei Lehrerinnen, einen IT-Spezialisten, drei Erzieherinnen und drei Leute aus der Gastronomie habe er bereits vermittelt - auch in Meßstetten. „Vier stehen in Arbeit und bezahlen ihre Miete selbst“, nennt Harald Fritz erste Erfolge.

Gemeinsam mit Rüdiger Wysotzki trotzt der 61-Jährige Wind, Wetter und tropischen Temperaturen und begleitet aktuell 40 Kinder im Alter von 10 bis 16 Jahren täglich vom Kasernengelände ins Gymnasium. In zwei Vorbereitungsklassen, für die sich auch Rektor Norbert Kantimm stark gemacht hat, lernen die Jungen und Mädchen in einem fünf Wochen dauernden Intensivkurs Deutsch. Die Schulwegbegleitung werden demnächst erwachsene Elternteile übernehmen.

Büokratie bringt Mitarbeiter zur Verzweiflung

Es sind diese kleinen Schritte, die Hoffnung geben und auch die Ehrenamtlichen bei der Stange halten. Harald Fritz steht nicht selten bis zu 14 Stunde im – unbezahlten – Dienst. Auch am Wochenende und aus Überzeugung. Selbst die deutsche Bürokratie und die Flut an Formularen, welche die Mitarbeiter von Caritas, Landratsamt und Arbeitsagentur an Grenzen bringt, vermag die Freude an der Arbeit nicht zu schmälern.

Tierasyl ist ein Novum

Die DRK-Kleiderkammer ist gut gefüllt, in Meßstetten ist ein landesweit wohl einmaliges Tierasyl entstanden. Ehrenamtliche aus dem gesamten Kreis und aus dem Verein Pfotenengel sorgen für Futter, Zubehör und Betreuung.

Die Dankbarkeit vieler Flüchtlinge rührt Harald Fritz. Von heiler Welt kann aber keine Rede sein an einem Ort, an dem ganz unterschiedliche Menschen auf engem Raum zusammen kommen und auch auskommen müssen.

Harald Fritz räumt Probleme mit Drogen ein. Anders als in Deutschland seien in der Ukraine viele Medikamente frei zugänglich. In der Folge hätten Bewohner ihre Abhängigkei mit Alkohol gedämpft. Mit dem vor Ort eingerichteten Gesundheitszetrum werde nach Lösungen gesucht auch für Leute im Methadonprogramm. Harald Fritz hält aber fest: „Auf dem Gelände wurde kein Haschisch, kein Marihuana und auch kein Kokain gefunden“.

Mit Aufklärung gegen das Betteln

Unter den Geflüchteten sind auch Roma-Familien. Und ja, sagt Fritz, diese seien teilweise zum Betteln gegangen. „Weil sie nicht gewohnt sind, dass sie mit Essen versorgt werden, das aus Sozialleistungen finanziert wird“. Die Mitarbeiter im AZ seien bemüht, bei jeder Ankunft immer wieder Aufklärungsarbeit zu leisten und Gespräche zu führen.

Keine sexuelle Belästigung

Ganz entschieden tritt Harald Fritz Gerüchten entgegen, in einem Einkaufsmarkt sei es zu einer sexuellen Belästigung gekommen. Er selbst habe vor Ort mit der betroffenen Mitarbeiterin und der Filialleitung Gespräche geführt. Ärger habe es wegen Alkokolkonsum gegeben.

In der Stadt sei auch von massenhaften Ladendiebstählen die Rede. Bislang, so Fritz, seien keinerlei Anzeigen bei der Polizei eingegangen. Er habe auch aktuell das Gespräch mit den Filialleiterin von Edeka und Lidl gesucht. Der Alkoholkonsum auf dem Lidlparkplatz sei mittlerweile unterbunden worden.

Hetze wird geahndet

Der ehemalige Polizist warnt davor, Gerüchte von Mund zu Mund oder über die sozialen Medien zu verbreiten. Hetze werde geahndet. Was den Spendentopf der Stadt angeht, haben sich die Gelder auf 151.890 Euro summiert. Rund die Hälfte sei schon verwendet worden, informierte Bürgermeister Frank Schroft.

Gezielt wurden Spielgeräte, Tretroller, Schulsachen und Obst für die Schulkinder angeschafft. Sieben schwangere Frauen erhalten Unterstützung, auch Schuhe in Größe 48 werden bei Bedarf besorgt. Außerdem wurden teils sehr gute und fast neue Fahrräder gespendet worden. Harald Fritz: „Für diese muss ich jetzt Zahlenschlösser besorgen“.