Es kommt Bewegung in die Zolgensma-Debatte: Die Zeichen stehen auf Hoffnung für Tiago

Von Rosalinde Conzelmann

Die „Millionenspritze“, für die die Eltern des schwerkranken 22 Monate alten Tiago aus Binsdorf kämpfen, ist fast täglich in den Schlagzeilen. Diese Dynamik gibt der Familie des kleinen Jungen Zuversicht. Ebenso wie die unglaubliche Spendenbereitschaft ihrer Mitbürger.

Es kommt Bewegung in die Zolgensma-Debatte: Die Zeichen stehen auf Hoffnung für Tiago

Der 22 Monate alte Tiago de Freitas-Hafner leidet an Muskelschwund. Seine Eltern hoffen, dass er mit der „Millionenspritze“ eine Chance auf ein Leben ohne Rollstuhl erhält. Die Menschen bewegt sein Schicksal ungemein. Es wurden schon fast 140.000 Euro gespendet.

Für Stephanie de Freitas und Jens Hafner aus Binsdorf bedeutet das 2,1 Millionen Dollar (1,9 Millionen Euro) teure Medikament des Schweizer Herstellers Novartis die einzige Hoffnung, das ihr an Muskelschwund erkrankter Sohn ein einigermaßen selbstbestimmtes Leben ohne Rollstuhl führen kann.

Sie kämpfen für ihr Kind, um es vor einem Leben im Rollstuhl und einem frühen Tod zu retten.

Resolution geht an Spahn

Die betroffene Krankenkasse gibt keine Stellungnahme zu dem Fall ab, hat sich aber mit weiteren Kassen in einer Allianz an die höchste gesetzliche Ebene gewandt.

In einer gemeinsamen Resolution an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn fordert ein Bündnis aus Kassen, Gemeinsamem Bundesausschuss (GBA) und dem Verband der Universitätsklinika Deutschlands eine eindeutige gesetzliche Regelung für diesen und ähnliche Fälle.

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene Erkrankung und kommt bei einem von 10.000 Neugeborenen vor. Rechnet man diese Zahlen hoch, erkranken jährlich in Deutschland 80 Babys an SMA.

Bei der Erkrankung kommt es zu einem Untergang von speziellen Nervenzellen im Rückenmark. Es gibt unterschiedliche Ausprägungsformen. Allen ist gemeinsam, dass sie auf ein fehlerhaftes Gen zurückgehen: Das SMN1-Gen (Survival-of-Motorneurons-Gen 1) bildet ein Eiweiß, das für den Erhalt der Motoneuronen nötig ist. Ohne dieses Eiweiß verkümmern die Nervenzellen.

Es gibt schon ein Medikament

In Deutschland steht seit 2017 mit Spinraza ein Medikament zur Verfügung, für das der GBA, das höchste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, einen „erheblichen Zusatznutzen“ festgestellt.

Der GBA bestimmt in Form von Richtlinien, welche medizinischen Leistungen die rund 73 Millionen Versicherten beanspruchen können.

Vergleichende Studien fehlen

Die Wirksamkeit von Zolgensma sei wahrscheinlich mit der Wirksamkeit von Spinraza vergleichbar, allerdings würden keine vergleichenden Studien vorliegen, argumentieren die Unterzeichner in dem Brief und wählen klare Worte: Im Hinblick auf die erheblichen Renditen, die mit Zolgensam erzielt würden, sei es nicht hinnehmbar, „wenn bereits ohne eine Zulassung anstelle eines Härtefallprogramms über eine beispiellose Medienkampagne ein erheblicher Druck auf Krankenkassen und Ärzte entfaltet wird, das nicht zugelassene Medikament zu Lasten der Versichertengemeinschaft vorab einzusetzen“.

Mit Spinraza gebe es eine zugelassene wirkungsvolle Therapiemöglichkeit, wohingegen für Zolgensam noch keine abschließenden Ergebnisse vorliegen würden.

Den Hersteller in die Pflicht nehmen

Die Unterzeichner sehen vor allem den Hersteller in der Pflicht. Sollte Zolgensma noch vor der europäischen Zulassung verabreicht werden, könne dies nur im Rahmen eines Härtefallprogramms erfolgen. Dann könnten Patienten, die die Voraussetzungen für die bereits vorliegende überzeugende Studie zum Medikament erfüllen, vorab damit behandelt werden.

Der Gemeinsame Bundesausschuss fordert, dass Novartis verpflichtet wird, ein entsprechendes Härtefallprogramm aufzulegen.

Härtefallprogramm zur Überbrückung

Ganz aktuell berichtet die Tagesschau, dass das Gesundheitsministerium in einem Schreiben an Novartis-Chef Vas Narasimhan und Deutschlandchef Heinrich Moisa eben dieses Verfahren fordert: „Das Bundesministerium für Gesundheit begrüßt es daher sehr, wenn Sie … kurzfristig die Auflegung eines Härtefallprogramms (Compassionate Use) nach der Arzneimittel-Härtefall-Verordnung in Betracht ziehen, um den Zeitraum bis zur Erteilung der arzneimittelrechtlichen Zulassung und den Markteintritt in Deutschland zu überbrücken.“

Novartis antwortet vorsichtig

Novartis gibt darauf keine konkrete Antwort, sagt nur (siehe auch unser ausführliches Interview), dass sie „intensiv an einem Vorschlag für ein internationales Programm arbeiten“. Ein Zeitfenster nennt der Pharmakonzern nicht.

Stephanie de Freitas und Jens Hafner läuft die Zeit davon. Am 14. Januar 2020 wird ihr einziges Kind zwei Jahre alt. Danach wird Zolgensam nicht mehr verabreicht.

Die Spendenwelle rollt

Die Spendenbereitschaft der Menschen ist unglaublich. Neben vielen kleinen Spenden von Nachbarn, Freunden und Mitbürgern gibt es auch ideelle Unterstützung.

Binsdorfs Ortsvorsteher Dr. Hans-Jürgen Weger hat in den vergangenen Tagen Stern-TV und RTL, die Stiftungen Aktion Mensch und Dirk Nowitzki sowie die SWR 1-Aktion Herzenssache angeschrieben, das Schicksal von Tiago geschildert und um Unterstützung gebeten – finanzieller und medialer Art. „Der ganze Ort guckt und macht und tut“, sagt der Ortsvorsteher.

Landrat und Stadtchef setzen sich ein

Geislingens Bürgermeister Oliver Schmid hat telefonisch mit der betroffenen Kasse Kontakt aufgenommen und den Rat erhalten, sich direkt an den Hersteller zu wenden.

Mit Landrat Günther-Martin Pauli hat er einen Brief an Novartis aufgesetzt, in dem die Stadt und der Landkreis nachhaken, ob es nicht möglich ist, Tiagos Behandlung in die laufende Studie zum Zulassungsverfahren auf dem europäischen Raum einzubeziehen. Eine Antwort steht noch aus.

Anwalt ist zuversichtlich

Johannes Kaiser, Fachanwalt für Arbeits- Sozial- und Versicherungsrecht aus Olpe, vertritt die Interessen des kleinen Binsdorfer Patienten gegenüber der Kasse. Er hat bereits für fünf betroffene Kinder eine Behandlung mit Zolgensma juristisch durchgeboxt. „Die Zusagen sind alle da“, sagt er im Telefongespräch mit dem ZOLLER-ALB-KURIER. Es sind alles kranke Kinder mit dem Typ 1 oder Typ 2. Der kleine Tiago leidet an der spinalen Muskelatrophie Typ 2.

Kaiser sagt, dass die betroffene Kasse, mit der er zum ersten Mal Kontakt hat, informiert ist. Neuigkeiten kann der Jurist aber zum derzeitigen Zeitpunkt keine verkünden. Erfahrungsgemäß gehe es bis zu fünf Wochen, bis eine Antwort kommt.

Es geht auch ohne medizinischen Dienst

Der übliche Weg ist, dass die Kasse den Medizinischen Dienst (MDK) mit der Beurteilung des Falles beauftragt. Dieser berät die gesetzlichen Krankenkassen in allgemeinen Grundsatzfragen und führt Einzelfallbegutachten durch. „Es kommt aber auch vor, dass ohne den MKD entschieden wird“, sagt Kaiser.

Absage ist nicht das Ende

Sollte die Kasse den Antrag ablehnen, bedeutet dies nicht das Ende des Verfahrens, betont Kaiser. Dann werde er härtere Bandagen auffahren und alle juristischen Möglichkeiten ausschöpfen. Allerdings ist er zuversichtlich, dass es nicht so weit kommen wird. Mutmachend sagt er: „Es gibt keinen Grund, aktuell nicht zuversichtlich zu sein.“

Ebenso ist er sicher, „dass wir nach einer Zusage auch ein Behandlungszentrum finden werden.“

Diese Zuversicht überträgt sich auch auf die Eltern von Tiago, für die nichts mehr so ist wie es war, seitdem sie an die Öffentlichkeit gegangen sind.

Sie fühlen sich getragen von dieser Hilfswelle.

Kein Tag ohne Spenden

Es vergeht kein Tag, an dem nicht eine Spende angekündigt oder übergeben wird. Seien es Vereine, wie der Tierschutzverein Villa Hundebunt in Gruol, der 1000 Euro übergeben hat. „Weil wir gut aufgestellt sind und diesem Kind helfen wollen“, sagt die Vorsitzende Nadine Klaus.

Oder die Narrenzunft und die Feuerwehr Heiligenzimmern, die gemeinsam ebenfalls 1000 Euro gespendet haben. Die Wehrleute haben das Geld persönlich an die Familie übergeben und Tiago durfte mit dem Feuerwehrauto mitfahren. Die Narrenzunft schenkte ihm drei Minimasken.

Der Spendenstand

Der Kontostand bei der Deutschen Muskelstiftung betrug am Donnerstag 137.822, 98 Euro.