Winterlingen

Endlich Frieden: Für syrische Familie hat in Winterlingen ein neues Leben begonnen

16.08.2019

von Tobias Göttling

Endlich Frieden: Für syrische Familie hat in Winterlingen ein neues Leben begonnen

© Tobias Göttling

Mohammed, Joud und Reem freuen sich über den Besuch. Auf dem Photo, das Joud in der Hand hält,ist der kleinste Bruder der Geschwister, Amr, zu sehen. Er musste den Sommer zur Behandlung im Krankenhaus verbringen.

Eine Flüchtlingsfamilie aus Aleppo lebt seit vier Jahren in Winterlingen und hat sich gut eingelebt. Trotz vieler Sorgen: Mohammed war aufgrund der schrecklichen Kriegserlebnisse traumatisert, hat sich aber erholt. Der jüngste Sohn leidet an Leukämie. Aber die Familie hat die Hoffnung nicht verloren.

Seit nunmehr vier Jahren lebt der zwölfjährige Mohammed mit seiner Familie in Winterlingen. Es gefällt ihm sehr gut. So gut, dass er als einer der eher seltenen Fälle sogar in den Ferien die Schule vermisst. Im großen„Flüchtlingsjahr 2015 kam Mohammed mit seinen Geschwistern mit dem Flugzeug zu Verwandten in die Türkei, was heute nicht mehr möglich wäre.

Schrecksekunde für die ganze Familie

Von dort aus ging es nach ein paar Wochen mit der ganzen Familie, inklusive Baby und einer hochschwangeren Mutter, mit einem völlig überladenen Schlauchboot weiter nach Griechenland. Mit dem damals kleinsten Sohn war der Vater gar unterwegs ins Wasser gefallen, was mehr als nur eine Schrecksekunde für die Familie und das gesamte Boot, welches zum Glück der Familie anhielt, bedeutete. Von Griechenland aus ging es zu Fuß in Richtung Deutschland, ehe die Familie der Aufnahmestelle in Mannheim zugeteilt wurde.

Endlich Frieden gefunden

Mohammed war erleichtert darüber, endlich Frieden zu finden. Anfangs konnte er das kaum glauben. Von Mannheim ging es dann direkt nach Winterlingen – für die Familie war das nach eigenem Erleben ein Glücksfall. Mohammeds neunjährige Schwester Reem erzählt: „Ich war voll glücklich, in Deutschland zu sein und keine Angst mehr haben zu müssen. Für mich hat ein neues Leben angefangen.“

Bomben fallen auf Aleppo

Der Krieg in Aleppo war für den kleinen Mohammed der reinste Horror. Ganz anders ging es seiner Schwester. Als 2014 die Bomben fielen, war sie noch jung genug, um den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Das war ihr Glück: Während die Bombenangriffe auf benachbarte Häuser und die Umgebung bei Mohammed schwere Traumata auslösten, nahm Reem die Angriffe eher wie ein Feuerwerkspektakel an Silvester wahr und ahnte nicht, was gerade wirklich passierte, als sie die vielen Flieger am Himmel sah und den Lärm hörte.

Mohammed war aufgrund der schrecklichen Kriegserlebnisse in Deutschland zwei Jahre über in wöchentlicher ärztlicher Behandlung, wie sein Vater Mahmoud berichtet. Als die Lage im Jahr 2014 besonders ernst wurde, hatte die Familie nur einige Minuten Zeit und ergriff nach etwa einer Stunde mit nur einem Koffer Gepäck die Flucht, um ihr Leben zu retten.

Selbst wenn ihr Haus von einer Bombe verschont geblieben wäre, hätte die Familie nicht mehr lange zusammenbleiben können. Denn obwohl Mahmoud für Frau und Kinder sorgen musste, wäre er dazu gezwungen worden, bis zu 14 Jahre für Machthaber Baschar al-Assads Truppen in den Wehrdienst zu gehen und seine Familie zurückzulassen.

Sohn leidet an Leukämie

Wenn die gemeinsame Flucht nicht gelungen wäre, würde heute aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung wohl zumindest der Kleinste der mittlerweile vier Geschwister nicht mehr leben können: Der dreijährige Amr ist an Leukämie erkrankt. Ein schwerer Schicksalsschlag für die ganze Familie, deren Verwandte aus Dortmund nun in den Ferien zur Unterstützung zu Gast gekommen sind.

Die Geschwister Reem und Mohammed verbringen die Ferien gemeinsam mit dem vierjährigen Joud und dem Vater in Winterlingen, während die Mutter mit dem Kleinsten der Familie voraussichtlich noch einige Tage in der Klinik in Tübingen bleiben muss. Ab und zu können sie mit dem Baden-Württemberg-Ticket zu Besuch kommen. Doch auf Dauer geht das ins Geld.

Viele gute Erlebnisse helfen

Mohammed geht es heute deutlich besser als bei seiner Ankunft in Deutschland. Während er zunächst wie versteinert und ohne Empathie wirkte, ist er heute ein glücklicher Junge. Wer ihn schon länger kennt, dem fällt die Verwandlung sehr stark ins Auge. Dazu beigetragen haben die vielen guten Erlebnisse Zuhause in Winterlingen sowie in der Schule, inklusive der engagierten Lehrer und vieler entstandener Freundschaften zu Mitschülern.

Oft spielt Mohammed mit seinen Geschwistern und mit Nachbarskindern, was ihn Ängste und Schrecken vergessen lässt. Stolz zeigt er beim Interview sein Grundschulzeugnis. Die Noten sind gut. Auf die Frage, ob ihnen die Stadt oder das Landleben besser gefallen, haben die Geschwister eine eindeutige Antwort: „Hier in Winterlingen sind nicht so viele Leute, hier hat man seine Ruhe und kann schön spielen. Es ist nicht so gefährlich und man findet eher eine Wohnung“, weiß das neunjährige Mädchen Reem schon sehr energisch und überzeugt auszudrücken.

Die Hobbys von Mohammed und Reem sind ganz klischeehaft: Sie mag Reiten, er spielt gerne Fußball. Und auch mit Nudeln bzw. Spätzle als Lieblingsessen sind die beiden schon gut im Schwabenland angekommen.

Hoffen auf Arbeitsstelle

Nun hofft und bangt die Familie um das kleinste Geschwisterkind und darum, dass Vater Mahmoud nach dem baldigen Ende der mehrjährigen Sprachkurse eine Arbeitsstelle findet. Der Fachkräftemangel könnte Mahmoud gelegen kommen. In Syrien war er Fliesenleger und Maler. Doch sämtliche Zeugnisse liegen vor Ort in Aleppo. Mahmoud konnte sie in der Eile der Flucht nicht mitnehmen.

Umso mehr Papiere und Bürokratie gibt es dafür in Deutschland. Für die Flüchtlingsfamilie war das anfangs unbekannt, da man in Syrien sämtliche Angelegenheiten mit dem örtlichen Rathaus persönlich von Angesicht zu Angesicht bespricht. „Alle zwei Tage kommen hier Briefe von Behörden. Ich habe schon sämtliche Regale voll“, berichtet der vierfache Familienvater. Wie will man die oft selbst für Einheimische verklausuliert geschriebenen Schreiben verstehen, wenn man neu im Lande ist und kaum Deutschkenntnisse besitzt?

Umso wertvoller und wichtiger war und ist es für die Flüchtlingsfamilie, dass ihnen mehrere Personen ehrenamtlich helfen und für Fragen da sind. Auch die Erfahrungen mit Nachbarn sind gut. „Ich liebe Deutschland“, sagt Mahmoud vor der Haustüre bei der Verabschiedung. Sein Sohn Mohammed steht neben ihm und strahlt. Ihm hat das Interview sehr viel Spaß gemacht.

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