Eine zweite Chance für die Kirche – auch wenn der Weg noch lang ist

Von Lea Irion

Wofür steht die Kirche heute? Hat sie eine zweite Chance verdient, wenn sie sich auch ein Stück bewegt? Eine ganz persönliche Betrachtung.

Eine zweite Chance für die Kirche – auch wenn der Weg noch lang ist

"Love is no sin" (Liebe ist keine Sünde) – dieser Schriftzug prangte vor der katholischen Kirche in Balingen.

Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich viel Zeit damit verbracht, meine Beziehung zur katholischen Kirche zu reflektieren. Allzu positive Dinge sind mir nicht eingefallen: kalte Füße im Winter, schmerzende Knie auf Holzbänken, monotone Gottesdienste.

Als Kind habe ich die Kirche nämlich immer als Zwang empfunden. Meistens habe ich die Zeit damit totgeschlagen, die Malereien an der Decke unserer ortsansässigen Kirche zu analysieren. Es war für mich immer dasselbe – derselbe Gesang, dieselben Gebete, dieselbe Langeweile.

„Ich zog die Reißleine“

Als mir dann später noch dazu bewusst wurde, dass mich die katholische Kirche aufgrund meiner sexuellen Orientierung nicht akzeptieren würde, habe ich die Reißleine gezogen. Ich wurde volljährig und trat umgehend aus der Kirche aus.

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Im Gespräch mit den drei Interviewpartnerinnen wurde mir aber eines bewusst: Ich habe es mir zu leicht gemacht. Anstatt einen Dialog zu suchen habe ich meine Sachen gepackt und bin wortlos verschwunden.

Ich hätte das Gespräch mit anderen Mitgliedern der katholischen Glaubensgemeinschaft suchen können. Ich hätte mir die Argumente der Kirche wenigstens anhören sollen. Ich hätte versuchen können, Verständnis für ihre Haltung aufzubringen.

Glaube kann wertvoll sein

Das habe ich aber nicht getan – und das bedauere ich heute. Denn die Aktion dieser jungen Frauen zeigt, dass längst nicht alle katholischen Gläubigen der Auffassung des Vatikans folgen. Sie zeigt mir darüber hinaus, dass Kirche nicht mehr der langweilige Sonntagmorgenzwang ist, für den ich sie die meiste Zeit meines Lebens gehalten habe. Glaube kann wertvoll sein – und kein Zwang.

Mittlerweile sehe ich die Kirche als einen Ort, an dem Leute bedingungslos Geborgenheit, Sicherheit und Frieden finden können. Und das so scharf zu verurteilen, wie ich es vor wenigen Jahren getan habe, empfinde ich heute als ungerecht.

Kirche muss sich reformieren

Gleichwohl finde ich, dass die katholische Kirche noch einen sehr weiten Weg zu gehen hat. Sie muss sich von Grund auf reformieren, sie muss Moderne zulassen und vor allem muss sie sich auch den Menschen gegenüber öffnen, deren Lebensstil sie selbst nicht vertritt.

Ich bin bereit, ihr einen Schritt entgegenzukommen – wenn sie denn dasselbe für Menschen wie mich tut.