„Ein Schub“: Der kleine Tiago aus Binsdorf macht nach der Zolgensma-Infusion Fortschritte

Von Rosalinde Conzelmann

Tiago fegt mit seinem Rollstuhl durch das Wohnzimmer, fordert seinen Papa lautstark zum Spielen auf und lacht fröhlich: Im August hat der damals Zweieinhalbjährige die „Millionenspritze“ Zolgensma nach einem zehnmonatigen Kampf der Eltern bekommen. Er hat die Behandlung gut vertragen, macht Fortschritte. „Es hat einen Schub gegeben“, sagen seine glücklichen Eltern.

„Ein Schub“: Der kleine Tiago aus Binsdorf macht nach der Zolgensma-Infusion Fortschritte

Daumen hoch: Hochkonzentriert zeigt Tiago diese Geste beim Spielen mit Papa. Auf seinem T-Shirt steht, wer der Chef im Haus ist.

Das Schicksal des kleinen Jungen, der an Spinaler Muskelatrophie (SMA), Typ 2 leidet, hat zahlreiche Menschen berührt und einen im Zollernalbkreis bislang einzigartigen Spendenmarathon ausgelöst.

Über eine Million Euro haben die Menschen gespendet, um Tiago die Behandlung mit der Gentherapie Zolgensma, mit rund 1,9 Millionen Euro das teuerste Medikament der Welt, zu ermöglichen. Die Krankenkasse hatte die Kostenübernahme zunächst verweigert, weil Zolgensma in Europa nicht zugelassen war.

Im Mai kam der erlösende Anruf

Im Mai kam dann die erlösende Nachricht für die Eltern Stephanie de Freitas und Jens Hafner: Nachdem Zolgensma am 19. Mai auf dem europäischen Markt zugelassen wurde, war die AOK bereit, die Kosten für die Spritze und die Behandlung vollumfänglich zu übernehmen.

Keine Spritze, eine Infusion

Im August hat Tiago das Medikament erhalten. Die Familie war dafür eine Woche in der Kinderklinik Freiburg. Tiago hat das Medikament über eine Infusion an beiden Armen erhalten, während er in seinem Bettchen lag, erzählen die Eltern.

Tiago war ganz entspannt

„Er hat am wenigsten mitbekommen, während wir total aufgeregt waren“, erzählt Tiagos Mutter. Schließlich hätten sie so lange auf diesen Moment gewartet. Nach einer Stunde war die Infusion durchgelaufen und die kleine Familie erleichtert.

„Wir haben gleich die Verwandtschaft informiert, dass alles gut gegangen ist“, berichtet Stephanie de Freitas.

Er hatte kurz Fieber

Wenige Tage nach der Behandlung hat Tiago Fieber bekommen. „Das ist eine normale Reaktion, er hat sich schnell erholt“, erzählt Jens Hafner, der während des einwöchigen Krankenhausaufenthalts im Hotel übernachtet hat. Seine Frau durfte bei Tiago bleiben.

Jede Woche in die Klinik

Seither wird der Alltag der Familie immer noch von Klinikbesuchen bestimmt. Einmal pro Woche fahren sie mit Tiago ins Breisgau, wo ihm Blut abgenommen und er untersucht wird. Tiago erhält noch täglich Cortison, vor allem seine Leberwerte werden streng überwacht.

Es gibt Fortschritte

Merken Sie einen Unterschied? Diese Frage wird den Eltern ständig gestellt, erzählt Stephanie de Freitas. Ihre Antwort: „Ja, wir merken Unterschiede.“ Und auch Bekannte, die ihn länger nicht gesehen hätten, würden bestätigen, dass es einen Schub gegeben hat. „Unser Kleiner ist wesentlich stabiler“, sagt Jens Hafner. „Und er hat mehr Kraft“, fügt seine Ehefrau an.

Tiago kann noch immer nicht stehen und braucht seinen Rollstuhl, mit dem er aber viel sicherer geworden sei. So fährt er beispielsweise jetzt alleine über die Türschwellen in der Wohnung. „Er ist da richtig stur und probiert es, bis es funktioniert“, sagt seine Mama. Den neuen Rollstuhl für 3600 Euro haben die Eltern von dem Spendengeld finanziert.

Vorher konnte Tiago nicht laufen, weil seine Beine aufgrund des Muskelschwunds sein Gewicht nicht tragen konnten.

Viele kleine Erfolgserlebnisse

Und ihr kleiner Sohn liegt jetzt auch auf dem Bauch, stützt sich ab und ist viel quirliger. „Es sind viele kleine Erfolgserlebnisse, die uns Mut machen“, freut sich Jens Hafner. Deshalb hätten sie es noch keinen Moment bereut, dass sie diesen kräftezehrenden Weg gegangen sind.

Eltern tauschen sich aus

Das Ehepaar hat viel Kontakt zu anderen Eltern mit SMA-Kindern, die auch ihre Geschichte aufmerksam verfolgt haben, und tauschen sich aus. Ebenso haben sie jüngst mit ihrem Anwalt Johannes Kaiser telefoniert.

Dank der europäischen Zulassung von Zolgensma und der Zusage der Krankenkasse sind sie nicht mehr auf seinen juristische Hilfe angewiesen.

Ist Ihr Leben jetzt leichter? Stephanie de Freitas und Jens Hafner lächeln: „Natürlich, weil der große Druck weg ist.“ Tiagos Betreuung ist nach wie vor sehr zeitintensiv. Er muss regelmäßig zur Physiotherapie. Dreimal täglich wiederholt seine Mutter die Übungen mit ihm. „Bei der Physio hat er Spaß, bei mir zuhause ist es manchmal mühsam“, erzählt Stephanie de Freitas.

Er braucht kein Spinraza mehr

Tiago wurde vor der Zolgensma-Infusion alle vier Monate in der Freiburger Kinderklinik mit dem Medikament Spinraza behandelt, das ihm über das Rückenmark injiziert wurde. Eine belastende Tortur für den kleinen Patienten und die Eltern. „Wir sind froh, dass das vorbei ist“, sagt Stephanie de Freitas.

Tiago soll in den Kindergarten

Sie und ihr Mann blicken mit Zuversicht in die Zukunft und freuen sich, wenn ihr kleiner Lockenkopf, der am 14. Januar drei Jahre alt wird, in eine Kita darf und mit anderen Kindern Kontakt hat.

Einen Platz hat er schon bei der KBF in Haigerloch. Aber solange er aufgrund der Leberwerte noch Cortison nehmen und regelmäßig ins Krankenhaus muss, bleibt er zuhause. Die Kitafrage ist zudem von der Entwicklung der Corona-Pandemie abhängig.

Eine Straßenparty für alle Unterstützer

Tiagos Eltern sind noch immer zutiefst dankbar über die große Hilfe, die ihnen zuteil wurde und immer noch wird. Sie wollen ihre Unterstützer demnächst informieren, ihnen Rückmeldung geben, wie es dem kleinen Patienten geht. „Am liebsten würde ich eine Straßenparty machen, zu der alle kommen“, sagt Stephanie de Freitas.

Sie möchte auch die Website Fight for Hope, die sie zu Beginn ihres Spendenaufrufs eingerichtet und über Facebook bekannt gemacht hat, weiter betreiben, um künftig über das Schicksal ihres Kindes zu informieren. „Die Seite soll vor allem auch für Tiago bestehen bleiben“, sagt sie.

Die Kasse hat Wort gehalten

Von ihrem Anwalt wissen die Binsdorfer, dass es schon einen Fall gab, bei dem die Krankenkasse das Geld für die „Millionenspritze“ zurückgefordert hat. Davor fürchten sie sich nicht. „Wir halten einen guten Kontakt zur AOK, die ihr Wort gehalten hat“, betont Jens Hafner. Nach der Zusage habe die Kasse Tiago alles Gute für seinen weiteren Lebensweg gewünscht.

Was ist mit der Million?

Immer taucht auch die Frage nach dem Spendengeld auf. Was passiert damit, nachdem es nun für die Behandlung nicht gebraucht wird? „Wir wollten nie den Kontakt zu dem Geld“, betont Stephanie de Freitas, deshalb sei die Spendenaktion über die Deutsche Muskelstiftung gelaufen.

Dort sei das Geld gut aufgehoben. Die Eltern dürfen darauf zugreifen, wenn sie Hilfsmittel brauchen, die die Kasse nicht bezahlt, wie jetzt den Rollstuhl.

Geld geht auch in Forschung

Weil die hohe Summe explizit für Tiago gespendet wurde, werden seine Eltern entscheiden, wie es verwendet werden soll. Jens Hafner denkt auch an die Forschung. Die weit fortgeschritten sei.

„Es ist denkbar, dass es SMA in 15 Jahren nicht mehr gibt.“ Ihr Ziel sei es, dass die Gelder am Ende in irgendeiner Form bei den Patienten ankommen.

Während Tiago sein Schokoladenei auspackt, meint seine Mutter nachdenklich: „So traurig die Geschichte auch ist, haben wir dank ihr viele tolle Menschen kennengelernt, die uns noch immer beistehen“ – „und uns deshalb ans Herz gewachsen sind“, ergänzt ihr Lebenspartner.