„Die Jungen haben es gerockt“: Theater Lindenhof mit Monica-Bleibtreu-Preis ausgezeichnet
10.07.2023

© Richard Becker
Dürfen sich über den namhaften Monica-Bleibtreu-Preis freuen: Luca Zahn, Rino Hosennen und Hannah Im Hof (von links). Mit der Aufführung Woyzeck in der Fassung von Regisseurin Edith Ehrhardt und des Dramaturgen Franz Xaver Ott konnte das Theater Lindenhof bei den Privattheatertagen in Hamburg überzeugen.
Das Theater Lindenhof ist bei den Privattheatertagen am Wochenende in Hamburg mit dem Monica-Bleibtreu-Preis ausgezeichnet worden, mit „Woyzeck“ nach Georg Büchner in der Regie von Edith Ehrhardt. Nur vier Projekte in Deutschland haben einen Preis erhalten, das Theater Lindenhof ist dieses Jahr das einzige aus Baden-Württemberg. Wie die Jury ihre Wahl begründet und was der Preis für das Melchinger Theater unter den Linden bedeutet.
Franz Woyzeck: Ein junger Mann, der sich am untersten Ende der gesellschaftlichen Fahnenstange befindet. Um seine Freundin und das gemeinsame Kind versorgen zu können, lässt er sich unter anderem auf die Teilnahme an fragwürdigen medizinischen Versuchen ein und verliert angesichts eines Nebenbuhlers sämtliche Bodenhaftung – mit drastischen Folgen. Ein Dramenfragment des großen deutschen Schriftstellers Georg Büchner, das Dank seiner gesellschaftskritischen Fragen auch über 140 Jahre später nichts an Aktualität eingebüßt zu haben scheint. Denn: Mit der Aufführung in Hamburg gewann das Theater Lindenhof am Wochenende den Monica-Bleibtreu-Preis in der Kategorie (moderner) Klassiker.
„Unsere Jungen haben es gerockt“
Bereits am 23. Februar feierte das Stück Premiere im Lindenhof. Die Jungschauspieler Rino Hosenennen, Hannah Im Hof und Luca Zahn dürfen sich über die namhafte Auszeichnung genauso freuen wie die freie Regisseurin Edith Ehrhardt, Dramaturg Franz Xaver Ott sowie die an der Ausstattung, Musik und Fotografie Beteiligten Barbara Fumian, Julia Klomfass und Richard Becker. „Unsere Jungen haben es gerockt!“, kommentiert das Theater im Freudenrausch auf dem Instagram-Profil des Lindenhofs. Dieser Kommentar scheint nicht übertrieben: Mit 31 Jahren ist Luca Zahn, Sohn des Lindenhof-Mitbegründers Stefan Hallmayer, der Älteste des Schauspielertrios, das die Hamburger Jury von der von Edith Ehrhardt und Dramaturg Franz Xaver Ott eigens ausgearbeiteten Fassung überzeugen sollte.
Flinkes Wechselspiel und flexibles Bühnenbild überzeugen Jury
Der Plan hat funktioniert: Das Stück mit einer Laufzeit von etwa 80 Minuten habe die Jury vor allem deshalb beeindruckt, weil „die Thematik, dass wir alle Woyzeck sind und im Spiel jeder einmal Woyzeck war“ durch die zügig wechselnden Rollen stark herausgestellt wurde. Auch das Bühnenbild hätte einen entscheidenden Teil zum Erfolg in Hamburg beigetragen: Mit seinen herausherausnehmbaren Elementen hätte dieses viele flexible Auftrittsmöglichkeiten und Abgänge ermöglicht. Von der Schauspielrolle aus sei es zwar schwer einzuschätzen, doch „der Spaß am Spiel scheint sich übertragen zu haben“ und die Spannung auf der Bühne sei erfolgreich auf das Publikum übergegangen. „Es ist ganz toll! Man merkt, dass es ankommt, was wir machen“, sagt Darsteller Luca Zahn. Unter den Linden werde Woyzeck immer im Studio aufgeführt, weshalb das Spiel am Ohnsorg-Theater in Hamburg noch mal eine neue Erfahrung für das Team darstellte. Doch auch die Technik habe sich den neuen Umständen schnell angepasst und „das alles super hinbekommen. Für uns war es ganz toll, in den Norden zu fahren“, hält Luca Zahn freudig fest.

© Richard Becker
Dynamische Spielweise, schnelle Rollenwechsel und ein flexibles Bühnenbild – der Monica-Bleibtreu-Preis der Privattheatertage Hamburg in der Kategorie (moderner) Klassiker geht an das Melchinger Theater Lindenhof: "Es war ganz toll, dort aufzutreten."
Für den Lindenhof stelle der undotierte Preis eine große Ehre dar, nominiert gewesen zu sein sei bereits „eine Auszeichnung“ gewesen, sagt Zahn. Mit „Die ganze Hand“, aufgeführt in der Kulturstätte der Hamburger Kammerspiele, war noch ein weiteres Stück des Lindenhofs nominiert, dem es jedoch nicht zum Preis gereicht habe: „Obwohl das genauso verdient gewesen wäre, finde ich.“ Der Gewinn des Preises für die Woyzeck-Aufführung hebe nun allerdings „unseren Woyzeck in der bundesweiten Woyzeck-Landschaft besonders hervor“, heißt es seitens des Theaters. Diese sei derzeit auch durch die Aufnahme des Dramenfragments als Sternchenthema ins Deutsch-Abitur geprägt. Im Stück werde „die Frage nach dem sozialen Stand häufig und sehr direkt behandelt“, man finde vielerorts Verbindungen zur heutigen Welt, was die „Zeitlosigkeit des Dramas“ begründe. Es sei damals wie heute relevant, sich mit sozialen Fragen auseinanderzusetzen. Über das Geschehen auf der Bühne und theatralische Mittel werde das Fragment gebliebene Werk mitsamt seiner Bruchstückhaftigkeit zudem „klarer erzählt, als wenn man es nur in den Händen hat“. Ziel der Aufführung sei unter anderem, das Fragmentarische am Werk aufzuheben. Deshalb habe man am Lindenhof bereits einige positive Erfahrungen mit Schulklassen gemacht. In Büchners Werk sei schließlich „für alle was drin.“
Jede(r) kann Woyzeck sein: Die Umstände liegen außen vor
Die Art und die Spielweise mit den drei jungen Schauspielern hätte die Jury „beeindruckt und begeistert“. Mit dem schnellen Wechselspiel hatte jeder Darsteller einmal jede Rolle in sich, jede(r) spielte also einmal Woyzeck – auch Hannah Im Hof. Damit wollte das Team noch einmal in aller Deutlichkeit demonstrieren: Jede(r) kann Woyzeck sein. „Büchner beschreibt eine Gesellschaft, wie auch wir sie kennen. Er beschreibt einen Menschen, der überflutet ist von Fragen und Ausweglosigkeiten und um den sich die Zwänge immer enger ziehen. Woyzeck ist eine Geschichte, wie wir sie heute noch jeden Tag in den Zeitungsmeldungen lesen können. Jede(r) von uns kann Woyzeck sein“, erläutert Dramaturg Franz Xaver Ott im Programm zum Schauspiel. Auch Büchner schrieb 1834 an seine Familie: „Ich verachte niemanden [...], weil wir durch gleiche Umstände wohl alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen.“
Eine Tatsache, die das Theater Lindenhof ganz offenbar beeindruckend auf die Bühne gebracht hat.
Info
Büchners Drama gilt noch heute als eines der einflussreichsten Werke der deutschsprachigen Theaterliteratur. Die nächsten Aufführungen finden nach Spielterminen im Rahmen des Kulturherbsts 2023 (am 3., 4. und 5. Oktober in der Pausa in Mössingen) ab 15. Oktober auch wieder im Melchinger Lindenhof statt – der genaue Spielplan sei allerdings noch "in der Mache", lässt man wissen.
