Zollernalbkreis

Chefarzt der Intensivstation im Zollernalb-Klinikum: „Wir zocken zu viel mit dem Virus“

16.04.2021

Von Michael Würz

Chefarzt der Intensivstation im Zollernalb-Klinikum: „Wir zocken zu viel mit dem Virus“

© Klinik

Prof. Dr. Boris Nohé

Die Zahl der Covid-19-Patienten, die im Zollernalb-Klinikum behandelt werden, ist in den vergangenen Tagen stark gestiegen. Dabei bekommen es die Mediziner mit immer jüngeren Patienten zu tun. Der Chefarzt der Intensivstation, Professor Dr. Boris Nohé, mahnt: „Wir müssen den Anstieg der Belegungszahlen mit allen Mitteln bremsen.“

Seit einem Jahr kümmern sie sich um die schwersten Covid-19-Fälle im Zollernalbkreis: Boris Nohé und sein Team der Intensivstation im Zollernalb-Klinikum. Im Angesicht der dritten Welle sprechen wir mit einem Mediziner, der dieser Tage sorgenvoll auf die aktuelle Entwicklung blickt.

Wie stellt sich die Corona-Situation im Zollernalb-Klinikum gegenwärtig dar?

Boris Nohé: Die stationären Aufnahmen aufgrund von Covid-19 sind in den letzten vier Wochen deutlich angestiegen – von 13 auf aktuell 39 stationäre Covid-Patienten.

Auf der Intensivstation schienen die Zahlen zuletzt noch relativ stabil.

Aus meiner Sicht ist die Zeit der Stabilität auf der Intensivstation vorüber. Ausgehend von ein bis zwei Intensivpatienten Anfang März, stieg die Belegung Anfang April auf drei bis vier Patienten und in den letzten Tagen auf acht. Alle diese Patienten benötigen eine Form der maschinellen Beatmung. Eine vergleichbare Dynamik berichten auch unsere intensivmedizinischen Kollegen an den regionalen Nachbarkrankenhäusern.

Vielfach wird berichtet, dass das Durchschnittsalter der Covid-19-Patienten in den Kliniken sinkt. Bildet sich dies auch im Zollernalb-Klinikum ab?

Das Durchschnittsalter ist tatsächlich deutlich gesunken. Während zum Jahreswechsel sehr viele über 75 Jahre alte Patienten stationär behandelt werden mussten, kommen nun vermehrt die Fünfzig- bis Sechzigjährigen in die Krankenhäuser und auf die Intensivstationen.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Diese Entwicklung wurde von den ernstzunehmenden Experten bereits vor einigen Monaten vorhergesagt. Sie beruht auf der höheren Impfrate und Vorsicht der älteren Bevölkerung. Jüngere Menschen sind einerseits deutlich seltener geimpft und treten andererseits mit deutlich mehr Personen in Kontakt als dies betagte Personen wagen. Das Infektionsrisiko ist also einfach höher.

Hinzu kommt: Das Virus ist mittlerweile diffus in der Bevölkerung verbreitet und die mutierte Variante ist leichter übertragbar. Obwohl die Erkrankung bei den jüngeren Menschen etwas seltener zu schweren Verläufen führt, hat die höhere Infektionsrate der Jüngeren einfach die Konsequenz, dass jetzt auch vermehrt schwere Fälle in dieser Altersgruppe auftreten – bis hin zu einzelnen Fällen in der Altersgruppe unter dreißig.

Wie verlaufen die Covid-19-Erkrankungen der Patienten, die derzeit in der Klinik behandelt werden?

Eine wichtige Frage. Die Anzahl der intensivpflichtigen Covid-Patienten unter 70 und deren Krankheitsschwere zeigen ganz klar, dass man auch in der Altersklasse von 40 bis 70 Jahren nicht vor lebensbedrohlichen Verläufen geschützt ist. Diese Altersklasse ist auf den Intensivstationen eben nicht mehr die Ausnahme, sondern entwickelt sich zur neuen Regel. Die Patienten sind lebensbedrohlich krank und weisen häufig Lungenveränderungen auf, die auch die Überlebenden über sehr lange Zeit in ihrer Leistungsfähigkeit massiv beeinträchtigen werden.

Gibt es, neben dem Alter, weitere Dinge, die sich im Vergleich zu den vergangenen Monaten geändert haben?

Jüngere Patienten überleben auch schwerste Krankheitsstadien länger als hochbetagte Menschen. Dies verlängert den Aufenthalt auf der Intensivstation deutlich und führt zu einer größeren Belegung der verfügbaren Intensivbetten. Dadurch entsteht aktuell das gewisse Paradox einer höheren Überlebensdauer mit gleichzeitig geringerer Intensivbettenkapazität für weitere Aufnahmen.

Bundesweit äußern sich insbesondere Intensivmediziner derzeit besorgt. Sie fürchten weiter steigende Patientenzahlen, einige sprechen von einem „Notruf“. Teilen Sie diese Sorgen?

Aufgrund der bereits dargestellten Fakten teile ich diese Sorgen voll und ganz. Da die vor Wochen vorhergesagte Entwicklung jetzt bereits eingetroffen ist, handelt es sich nicht mehr um eine Prognose, sondern um die Realität. Wir sind zwar noch nicht in einer Situation, in der wir neu erkrankte Patienten nicht mehr adäquat versorgen können, aber wir haben bereits jetzt eine Intensivbelegung wie zu den Spitzenzeiten der zweiten Welle. Nur sind wir momentan noch nicht an der Spitze der dritten Welle angelangt, sondern befinden uns im Anstieg der Fallzahlen.

Zudem haben die regionalen Unterschiede deutlich abgenommen, eben weil sich das Virus diffus in allen Regionen und Bevölkerungsschichten ausgebreitet hat. Am deutlichsten wird das im Vergleich zur ersten Welle. Hier gab es viele Landkreise, die nahezu keine schweren Coronafälle verzeichneten, während in anderen Kreisen wie dem Zollernalbkreis bis zu 15 Patienten parallel auf der Intensivstation versorgt werden mussten.

Dies führt dazu, dass viele Intensivstationen ähnlich ausgelastet sind und Patientenverlegungen bei Engpässen schwieriger werden. Bislang funktioniert die Versorgung ohne Einschränkungen, unsere Sorgen gelten den absehbaren Engpässen bei einem weiteren Anstieg der Fallzahlen.

Um die Zahl der freien Intensivbetten ranken sich zahlreiche Diskussionen. Wie interpretiert man diese richtig?

Jede Intensivstation verfügt über eine gewisse Anzahl vollausgestatteter Behandlungsplätze. Für das Zollernalb-Klinikum sind das jeweils 14 Beatmungsplätze an jedem Standort. Neben der technischen Betriebsbereitschaft bestimmt die Verfügbarkeit von Pflegenden die Anzahl der betriebsbereiten Betten. Die Vorschriften fordern hier einen Betreuungsschlüssel von 1:2.

Das heißt: Für den Betrieb von 14 Intensivbetten sind mindestens sieben Pflegekräfte erforderlich. Deswegen schwanken die gemeldeten Zahlen in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit von Pflegekräften, die in der Pandemie aufgrund von Quarantäne-Regelungen oder Erkrankungen schwanken kann. Aktuell betreiben wir zumeist 25 Betten, 13 davon in Balingen. Letztere sind bereits jetzt zu 50% mit non-invasiv oder invasiv beatmeten Covid-Patienten ausgelastet.

Nun ist jedem klar, dass es auch noch Patienten mit anderen schweren Krankheitsbildern gibt, die auf den Intensivstationen behandelt werden müssen, so dass die freien Betten nicht ausschließlich für Covid, sondern eben für alle Krankheitsbilder eingesetzt werden müssen.

Und welche Aussagen lassen sich von den öffentlich gemeldeten Intensiv-Zahlen ableiten?

Die Meldezahlen zeigen immer nur eine Momentaufnahme am Morgen. Abhängig von der Erholung können jeden Tag stark variierende Zahlen von Patienten verlegt werden. Ebenso variiert die Zahl der Notfallaufnahmen. Aus diesem Verhältnis ergibt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt am Morgen die Meldezahl, die wenige Stunden später allerdings ganz anders sein kann. Das bedeutet, dass die Zahlen nur zwei Zielen dienen können: Erstens einer Gesamteinschätzung der Lage im Land und, zweitens, einer ersten Orientierung für die Koordinationsstellen. Um große Patientenzahlen bestmöglich verteilen zu können, werden Aufnahmen und Verlegungen von Covid-Intensivpatienten im Bedarfsfall von zwei zentralen Stellen koordiniert.

Regional ist das Uni-Klinikum Tübingen für unseren Bereich zuständig, eine weitere überregionale Koordinierungsstelle befindet sich in Stuttgart. Bevor der Koordinator für eine Verlegungsanfrage alle Krankenhäuser abtelefoniert, kann er die Meldezahlen dafür nutzen, anhand des Belegungsgrades diejenigen Intensivstationen zu identifizieren, die am ehesten über freie Kapazitäten verfügen. Er wird aber in jedem Fall zuvor abfragen, ob die gemeldeten Zahlen noch der aktuellen Belegung entsprechen. Unser Versorgungsbereich ist eben von Notfällen geprägt und die Belegungszahlen der einzelnen Stationen fluktuieren entsprechend stark.

Wichtig ist mir da aber noch ein anderer Punkt. Aus Gründen der Meldesystematik melden wir zwar jedes prinzipiell belegbare Bett, keine Intensivstation könnte aber jedes Bett mit einem schwerkranken Covid-Patienten belegen. Dafür ist die Behandlungsintensität viel zu hoch. Bei einer angenommenen Belegung von 50% Covid-Patienten bedeutet dies für eine einzelne Intensivstation eben nicht, dass nochmals dieselbe Anzahl von Covid-Patienten aufgenommen werden kann oder sollte. Wenn eine Station alle Betten an Covid-Patienten vergeben müsste, dann würde dies einem Katastrophenszenario entsprechen, das wir unbedingt verhindern müssen und bislang auch verhindern konnten.

Wie kann dies weiterhin gelingen?

Da wir bereits jetzt Belegungen wie zu Spitzenzeiten im Winter verzeichnen, obwohl wir uns erst im Anstieg einer Belegung mit jüngeren Patienten befinden, müssen wir den weiteren Anstieg der Belegungszahlen mit allen Mitteln bremsen. Dass der bereits erwähnte Betreuungsschlüssel vor wenigen Tagen von den Behörden ausgesetzt wurde, zeigt vielleicht, dass wir uns in einer äußerst angespannten Situation befinden.

Die Aussetzung einer Vorschrift ändert jedoch nichts daran, dass ein Behandlungsteam nur eine gewisse Anzahl von Patienten gut versorgen kann. Aus diesem Grund versuchen die Intensivmediziner, die intensivpflichtigen Patienten so gut wie möglich zu verteilen, so dass alle bestmöglich behandelt werden.

Ebenfalls eine stark diskutierte Frage: Wie sinnvoll ist die Zahl freier oder belegter Intensivbetten denn generell zur Beurteilung der Pandemie-Lage?

Ich halte diese Zahl für einen guten Indikator, weil er unabhängig von Testfrequenz und Altersspektrum beschreibt, wie häufig es tatsächlich zu lebensbedrohlichen Verläufen kommt. Der Indikator bewahrt uns also vor dem fatalen Irrtum einer Verharmlosung, da leichte Verläufe hier überhaupt keine Rolle spielen. Sein Problem liegt darin, dass er mit einer gewissen Verzögerung ansteigt. Sehen Sie es wie einen Tanker, der auf ein anderes Objekt zuläuft. Aufgrund seiner Trägheit muss er den Kurs ändern, bevor das Objekt in Sicht ist. Dafür nutzt er Navigationssysteme.

Ab einem gewissen Punkt können Sie erkennen, dass es zu einer Kollision kommen wird, wenn Sie nicht den Kurs ändern. Wenn Sie dann immer noch davon träumen, dass irgendein Wunder die Kollision verhindern würde, können Sie das Ergebnis nicht mehr beeinflussen. Bei Covid-19 besteht die Trägheit darin, dass zwischen Infektion und Beatmungspflicht etwa zwei Wochen liegen. Die Inzidenz als Maß der Infektionsrate ist also unser Navigationssystem, die Krankheitsentwicklung bestimmt die Trägheit. Ein hohes Aufkommen von beatmungspflichtigen Lungenversagen stellt das Kollisionsergebnis dar.

Welche Bedeutung hat die Impfung von Ärzten und Pflegern bei der Bewältigung der jetzigen dritten Welle? Ist die Impfung für das Klinikpersonal eine Erleichterung, möglicherweise auch eine psychologische?

Natürlich hat diese Impfung eine große Bedeutung. Einerseits weil sie Mitarbeitern und Patienten einen Infektionsschutz bietet und, andererseits, weil sie durch den Schutz des Personals vor Infektionen dazu beiträgt, dass die Krankenhäuser ihre Personalstärke für die Patientenversorgung aufrecht erhalten können.

Andererseits: Die dritte Welle folgt zeitnah auf die zweite. Wie erschöpft sind Ärzte und Pfleger inzwischen? Können Sie überhaupt noch?

Wir müssen einfach! Dennoch wird der Spagat zwischen Pflichtbewusstsein und Erschöpfung natürlich stetig größer. Hinzu kommt, dass wir als Privatpersonen dieselbe Corona-Müdigkeit spüren wie alle anderen. Beruflich sorgen wir uns, dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auch nach ihrem Abklingen neue Belastungen für unser Arbeiten bereithalten. Die Zeit des Applaudierens ist schon lange vorbei.

Nach der Pandemie werden wohl vor allem die Krankenhäuser der Notfallversorgung erheblich darunter leiden, dass sie große Aufwendungen für diese Notfallversorgung hatten und geplante Behandlungen gleichzeitig immer wieder zurückstellen mussten. Die Ausgleichszahlungen machen das nicht wett. Wer also viel für Corona geleistet hat, wird danach paradoxerweise das Problem der ungenügenden Behandlungserlöse haben und den Wechsel vom Versorgungsdruck zum Kostendruck erleben.

Die Corona-Müdigkeit ist in der Bevölkerung zunehmend greifbar. Wie ernst muss man die Situation aus Ihrer Sicht als Einzelner nehmen?

Gerade als Einzelner muss man sie ernstnehmen. Aus zweierlei Gründen. Erstens bestimmt das Verhalten jedes Einzelnen die Dynamik der Pandemie im Ganzen. Es gibt ja keine Infektion ohne Kontakte – und wir entscheiden alle ganz höchstpersönlich über die Einhaltung und Effektivität von Schutzmaßnahmen. Zweitens sehen wir die persönlichen Folgen einer Infektion jeden Tag auf den Intensivstationen. Und das nun eben auch in den Altersgruppen, die voll im Leben stehen und bislang keinerlei Anlass dafür hatten, sich mit dem Tod oder dauerhafter Atemnot und Erschöpfung zu beschäftigen. Es geht ja nicht nur um das Überleben, sondern um schwere Folgezustände, die das weitere Leben und Arbeiten drastisch verändern können.

Die Motivation fällt vielen nicht mehr so leicht wie zu Beginn der Pandemie ...

Es fällt nach einem Jahr der Einschränkungen zwar wirklich schwer, diese weiter aufrecht zu erhalten, aber wir sehen doch das Licht am Horizont. Die Impfung wirkt und ist die größte Chance zur Bewältigung der Pandemie. Auch wenn es noch dauert, bis wir die Bevölkerung so ausreichend geimpft haben, dass wirkliche Lockerungen möglich werden, sollten wir auf den letzten Metern zu diesem Ziel jetzt nicht aufgeben.

Es ist bei allem Verständnis für Corona-Müdigkeit doch für jeden Einzelnen einfach die schlechtere Lösung, wenn man die eigene Inkonsequenz am Tag der Aufnahme auf eine Intensivstation bereuen muss. Solche Fälle hatten wir in den letzten Monaten immer wieder. Unabhängig von der Altersgruppe haben manche überlebt und manche eben nicht.

Zahlreiche Intensivmediziner drängen im Zuge ihrer Warnungen auch politisch auf schärfere Maßnahmen. Wie stehen Sie dazu?

Ich bin hier derselben Meinung wie meine Kollegen. Wir sind hier als Gesellschaft oft zu inkonsequent und verzögern Maßnahmen oder weichen sie auf, nur um sie einige Wochen später dann eben doch umsetzen zu müssen. Mit dem Nachteil, dass es dann wesentlich länger dauert, bis ein deutlicher Effekt eintritt. Die Flut an Medienberichten und Talkshows mit scheinbaren Experten ist hier nicht hilfreich. Es wird so viel diskutiert, inhaltlich verkürzt und hinterfragt, bis dann doch wieder eine Meinung zum Fakt stilisiert wird, die der eigenen Position und dem Schönreden des Offensichtlichen dient.

Viele Bürger fragen sich, welchen Experten-Aussagen sie vertrauen sollen.

Wenn ich die Aussagen und Prognosen des letzten Jahres Revue passieren lasse, dann haben sich eben die Prognosen derjenigen Fachleute verwirklicht, die tatsächlich tief in der sehr speziellen Materie der Coronavirusinfektionen und Epidemiologie zu Hause sind. Nicht zuletzt die jetzige dritte Welle wurde exakt so beschrieben, wie sie eingetreten ist. Vielleicht haben wir Glück und die Menschen verhalten sich vorsichtiger, als es ihnen die offiziellen Regelungen noch gestatten würden. Dann könnte der befürchtete drastische Anstieg der schweren Fälle abgemildert werden. Für mein Gefühl zocken wir aber seit einigen Wochen zu viel mit dem Virus – und der Einsatz ist hoch.

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