Balingen

Balingen: Ortsvorsteher ziehen 50 Jahre nach der Eingemeindung eine überraschende Bilanz

31.12.2021

von Pressemitteilung

Balingen: Ortsvorsteher ziehen 50 Jahre nach der Eingemeindung eine überraschende Bilanz

© Stadtarchiv Balingen

Streichens Bürgermeister Walter Hetzel unterzeichnet am 3. November 1970 den Eingemeindungsvertrag. Hinter ihm stehen die Gemeinderäte (von links): Alwin Luppold, Karl Eppler, Albert Haasis, Paul Haasis, Wilhelm Weisser und Christian Herter. Die beiden einzigen noch Lebenden dieses Personenkreises sind Alwin Luppold und Albert Haasis.

1971 war ein ereignisreiches und bedeutsames Jahr für die Stadt Balingen. In jenem Jahr begann die sogenannte Freiwilligkeitsphase der Gemeindereform, wo gleich vier Eingemeindungen nach Balingen erfolgten. Anlässlich des runden Jubiläums lohnt sich ein Rückblick auf die Prozedere in Streichen, Ostdorf, Endingen und Erzingen. Was sich aus Sicht der aktuellen Ortsvorsteher durch die Eingemeindung in den vergangenen 50 Jahren verändert und verbessert hat.

In allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland erfolgte in den 60er- und zu Beginn der 70er-Jahre die sogenannte Gemeindereform. Sie hatte das Ziel, die Kommunalverwaltungen an die veränderten Anforderungen der Gegenwart anzupassen. So verabschiedete der Landtag in Stuttgart am 26. März 1968 das „Gesetz zur Stärkung der Verwaltungskraft kleinerer Gemeinden“.

Die initiierte Gemeindereform löste vorerst ein Beben aus. Denn die Fusionspläne der Regierung bedeuteten für die einzelnen Kommunen vor allem eins: den Verlust ihrer Selbstständigkeit und weitgehend auch ihrer Identität. Seit Jahrhunderten waren selbst kleinste Gemeinden selbstständig gewesen, hatten sich selbst verwaltet, hatten einen eigenen Bürgermeister, ein eigenes Rathaus, eine eigene Schule – sollte all das plötzlich aufgegeben werden?

Streichen in der Rolle des Vorreiters

Zum drohenden Verlust der Selbstständigkeit mischte sich grundlegende Skepsis. Viele offene Fragen warteten darauf, beantwortet zu werden. War die übernehmende Gemeinde überhaupt in der Lage, diese neuen Aufgaben zu erfüllen? Verfügte sie über genügend qualifiziertes Personal, waren ausreichend große Verwaltungsgebäude vorhanden? Und was sollte mit den Rathäusern der Dörfer geschehen? Stünden sie dann für immer leer? Bedenken, die nur mit Zuhören und bedachtem Verhandeln zu besänftigen waren.

Im Gegenzug war es auch für die Stadt Balingen lange Zeit ungewiss, ob sich die Gemeinden freiwillig dazu bereit erklären würden, ihre Selbstständigkeit quasi aufzuopfern. Zu aller Überraschen, wagte Streichen als erste Gemeinde den Sprung in die Unselbstständigkeit. Von Anfang an ging die Initiative von Streichen aus. Die kleine, abseits gelegene Gemeinde hatte den Eingliederungswunsch nach Balingen und die Verhandlungen dazu aktiv angestoßen und schließlich vollendet.

Mehrheit stimmte für die Eingemeindung

Schon beim ersten Zusammentreffen der Gemeinderäte am 6. Mai 1970 im Balinger Rathaus stand für die Streichener der Entschluss fest, dass sie zu Balingen gehören wollten. Diese Einstellung spiegelte sich auch bei der Bürgeranhörung am 25. Oktober 1970 wider. Von 313 stimmberechtigten Bürgern stimmten 211 für die Eingemeindung nach Balingen.

Noch am selben Abend trat das Gremium zu einer Sitzung zusammen und beschloss formal die Eingliederung der Gemeinde Streichen auf der Grundlage der soeben getroffenen Bürgerentscheidung. Seit dem 1. Januar 1971 darf sich Streichen Stadtteil von Balingen nennen.

„Der eiserne Wille Streichens war ein mutiger Schritt in die Zukunft“

Für Streichens damaliges Engagement und die zukunftsorientierte Einstellung findet der derzeitige Ortsvorsteher Rüdiger Haasis bewundernde Worte: „Der eiserne Wille Streichens war ein mutiger Schritt in die Zukunft.“ Dabei würdigt Haasis Streichens vorbildhaftes Vorgehen nicht nur aus der Sicht eines Ortsvorstehers, sondern blickt auf das Jubiläum der Eingemeindung als Sohn eines damaligen Gemeinderatsmitgliedes zurück.

„Es freut mich, dass mein Vater, Albert Haasis, sich sehr für die Eingemeindung nach Balingen eingesetzt habe“, so Haasis. Rückblickend erfüllt es ihn mit Stolz, dass sein Vater zu den Gemeinderäten zählte, die Zeugen der historischen Vertragsunterzeichnung durch Streichens Bürgermeister Walter Hetzel und Balingens Bürgermeister Albert Hagenbuch waren.

Balingen: Ortsvorsteher ziehen 50 Jahre nach der Eingemeindung eine überraschende Bilanz

© Paul Bossenmaier

Die Ortsvorsteher von Streichen, Ostdorf, Endingen und Erzingen (von links): Rüdiger Haasis, Helmut Haug, Thomas Meitza und Hans Peter Wendel (Montage).

Besonderer Würdigung gebührt Streichen nicht nur aufgrund der Tatsache, dass Streichen die erste Gemeinde war, die den entschlossenen Mut aufbrachte, den Weg der Eingemeindung zu gehen, sondern nahm mit dem unbeirrten Willen eine Vorbildfunktion für die anderen umliegenden Kommunen ein und ebnete damit für die Stadt Balingen den Weg für weitere Eingemeindungen. Weswegen der Vollzug der Eingemeindung als Pionierleistung im Interesse des Nahbereichs bezeichnet worden war.

Nach 50 Jahren Eingemeindung zieht Haasis ein positives Fazit: „Aus meiner Sicht war es damals wie heute richtig, zu Balingen zu gehören, es hat die Entwicklungen beiderseits sicher begünstigt. Ich persönlich fühle mich als Balinger mit der beibehaltenen Identität eines Streicheners.“

Auf stürmische Bürgeranhörung folgt eindeutiges Votum

Sechs Monate nach der ersten erfolgreichen Eingemeindung folgte Ostdorfs Eingliederung, die sich weitestgehend als unproblematisch erwies. Trotz der stürmischen Bürgeranhörung am 9. Mai 1971 erzielte das Votum eine eindeutige Mehrheit von 65,2 Prozent. Somit sprachen sich 375 Ostdorfer für eine Eingemeindung nach Balingen aus. Auf der Grundlage des Gemeinderatsbeschlusses vom 19. Mai 1971 erfolgte später die Eingliederung nach Balingen zum 1. Juli 1971.

„Die Selbstständigkeit aufzugeben, ist immer ein großer und sicher nicht einfacher Schritt für eine Gemeinde“, gesteht Ortsvorsteher Helmut Haug. Doch nach 50 Jahren Zugehörigkeit zur Stadt Balingen habe Ostdorf durch die Eingemeindung durchaus profitiert. Infrastrukturelle Einrichtungen wie Straßen, Baulanderschließung, Hallensanierung und der Neubau der Grundschule Schmiden wären allein nicht finanzierbar gewesen.

Balingen: Ortsvorsteher ziehen 50 Jahre nach der Eingemeindung eine überraschende Bilanz

© Stadtarchiv Balingen

Am 3. Juni 1971 unterzeichneten im großen Sitzungssaal des Rathauses Balingen Bürgermeister Otto Beck (Ostdorf) und Bürgermeister Albert Hagenbuch den Eingliederungsvertrag.

Wie einschneidend jedoch der damalige Schritt in die bevorstehende Unselbstständigkeit für die Ostdorfer Gemeinde gewesen sein musste, lässt sich an dem Zusatzvertrag bezüglich des Baus der Grundschule erahnen, der bereits vor Durchführung der Gemeindereform zwischen der Stadt Balingen und der Gemeinde Ostdorf geschlossen wurde. Dort wurde der Wunsch schriftlich fixiert, dass der Neubau auf Ostdorfer Gemarkung erfolgen soll. Über die Jahre wurde das Vertrauen zueinander jedoch gestärkt, weswegen auch Ortsvorsteher Haug betont, dass man „nach 50 Jahren zusammengewachsen ist“.

„Dennoch haben sich die Ostdorfer eine gewisse Selbstständigkeit und ein gewisses Selbstwertgefühl bewahrt. Man fühle sich eher als Ostdorfer denn als Balinger“, ergänzt Haug. Die damalige Vorstellung der Bürger, die Eingemeindung büße die Eigenständigkeit und die Identität der jeweiligen Gemeinden ein, erwies sich rückblickend als Fehlschluss.

Knappes Ergebnis bei der Abstimmung in Endingen

Diese Meinung teilt auch Endingens Ortsvorsteher Thomas Meitza. „Es liegt an den Stadtteilen selbst, ihr Eigenleben zu bewahren. Das ist vordergründig nicht davon abhängig, ob man in einem Stadtteil oder einer selbstständigen Gemeinde lebt“, findet Meitza.

So gelassen reagierten die Endinger im Jahre 1971 auf das Thema hingegen nicht. Auf einer emotional verlaufenen Bürgerversammlung folgte am 16. Mai 1971 die Abstimmung über die Eingliederung, dessen Ergebnis offenbarte, wie gespalten die Bürgerschaft war. 286 Endinger befürworteten die Eingemeindung nach Balingen. 251 stimmten gegen die Fusion.

„Vernunftehe“ mit Balingen

Letzten Endes entschied sich der Endinger Gemeinderat in Anbetracht der wachsenden nachbarschaftlichen Verflechtungen und im Bewusstsein der Verantwortung gegenüber der Bürgerschaft für Balingen, wodurch die Eingliederung am 1. August 1971 wirksam wurde.

Damit schlossen die Endinger mit der Stadt Balingen eine „Vernunftehe“, wie es in den Akten heißt. Nirgendwo trat die Notwendigkeit gemeinsamer Planung deutlicher zutage als am Südrand der Markung gegen Endingen. Dort lag das beste Baugebiet, das aber der Balinger Planung bis zur Eingliederung verschlossen blieb.

Balingen: Ortsvorsteher ziehen 50 Jahre nach der Eingemeindung eine überraschende Bilanz

© Stadtarchiv Balingen

Am 23. Juni 1971 wird die Vereinbarung über die Eingliederung der Gemeinde Endingen von Bürgermeister Artur Jenter (links) und Balingens Bürgermeister Albert Hagenbuch unterzeichnet.

Infolge der Eingemeindung ist Endingen von allen Balinger Stadtteilen proportional am stärksten gewachsen und hat aufgrund seiner kernstadtnahen Lage das Doppelte an Einwohnern hinzugewonnen. Mit der Eingliederung erhoffte sich Endingen, durch die Erschließung des Gewerbegebietes Gehrn vor den Toren der Stadt, zudem wirtschaftlichen Aufschwung. Die Frage, ob Endingen mit seinen Gewerbegebieten ohne Eingemeindung eine wohlhabend-blühende Gemeinde wäre, bleibt auch für den heutigen Ortsvorsteher reine Spekulation.

Noch immer keine Ortsumgehung

Rückblickend wurde in den Jahren vieles realisiert, aber die gewünschte Ortsumgehung scheint bis heute noch in der Ferne zu liegen. „Es schmerzt, dass nach insgesamt über 60 Jahren an Diskussion und Planung die überfällige Ortsumgehung von Endingen immer noch nicht realisiert ist. Natürlich ist hier in erster Linie die Straßenbauverwaltung beziehungsweise der Bund gefragt“, wendet Thomas Meitza ein. Trotzdem zieht Endingens Ortsvorsteher nach einem halben Jahrhundert Zugehörigkeit zur Stadt Balingen ein durchweg positives Fazit: „Letztlich denke ich aber, dass im Ergebnis doch beide Seiten von der Eingemeindung profitiert haben.“

Erzingen beendete 745-jährige Selbstständigkeit

Am 1. September 2021 jährte sich zum 50. Mal die Eingemeindung Erzingens zur Stadt Balingen. Auch hier dauerten die Verhandlungen ein Jahr. Doch gestaltete sich das Prozedere der Eingemeindung wesentlich unproblematischer als etwa im Fall von Endingen.

Unter dem damaligen Erzinger Bürgermeister Heinz Strobel waren die Erzinger am 15. August 1971 aufgerufen, sich für oder wider die Eingliederung nach Balingen zu entscheiden. Mit überzeugenden 83,7 Prozent stimmten die Erzingerinnen und Erzinger in einer demokratischen Umfrage für die Eingliederung zur Stadt Balingen.

Die Bürger Erzingens hatten von Anfang an die Hoffnung und das Vertrauen in die größere Gemeinschaft gesetzt, um die immer weiterwachsenden Anforderungen und Ansprüche an die Kommune besser erfüllen zu können. Das bis zum 1. September 1971 ländlich-konservativ gestaltete Dörfchen Erzingen beendete mit diesem Tag seine 745-jährige Selbstständigkeit als Gemeinde, um einen gemeinsamen Weg mit der Stadt Balingen zu gehen.

Balingen: Ortsvorsteher ziehen 50 Jahre nach der Eingemeindung eine überraschende Bilanz

© Stadtarchiv Balingen

Oberbürgermeister Albert Hagenbuch (Mitte) und die Stadträte besichtigten zusammen mit dem neuen Ortschaftsrat den eingemeindeten Stadtteil. Rechts neben Hagenbuch: Ortsvorsteher Heinz Strobel, der heute noch in Erzingen lebt.

Trotz des eindeutigen Votums findet der Ortsvorsteher Prof. Dr. Hans Wendel, dass der endgültige Schritt für die Erzinger Bürger rückblickend doch nicht ganz so einfach war: „Natürlich wurde damals die Eingemeindung von der Erzinger Bevölkerung, wie in anderen Teilorten auch, mit einem weinenden und einem lachenden Auge betrachtet.“

Aber die Vorteile für Erzingen überwogen damals wie heute jegliche Bedenken. „So wird die Eingemeindung auch heute, rückblickend nach 50 Jahren, immer noch als die richtige Entscheidung betrachtet, die für Erzingen mehr Vor- als Nachteile eingebracht hat“, betont Wendel.

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