Auch für Zollernalbkreis zuständig: Reutlinger Sozialgericht erwartet mehr Fallzahlen ab Herbst

Von Lea Irion

Die gute wirtschaftliche Lage der Region bescherte dem Reutlinger Sozialgericht, das auch für den Zollernalbkreis zuständig ist, im Jahr 2019 eine niedrigere Klagewelle als in den Jahren zuvor. Ob und wie sich das wegen der Coronakrise ändern wird, kann Präsident Martin Rother derzeit aber nicht verlässlich voraussagen.

Auch für Zollernalbkreis zuständig: Reutlinger Sozialgericht erwartet mehr Fallzahlen ab Herbst

Pressesprecher des Sozialgerichts Raphael Deutscher, Präsident Martin Rother und Vizepräsident Holger Grumann (von links).

Als das „Spiegelbild der Wirtschaft“ bezeichnete Martin Rother, Präsident des Reutlinger Sozialgerichts, seine Instanz – denn wenn es der Region wirtschaftlich nicht gut gehe, spiegele sich dies in einer erhöhten Anzahl an Klagen wider. Diese Zahl betrug 2019 genau 3018 Klagen und Eilanträge, was den niedrigsten Wert seit 2015 darstellt.

Von diesen Klagen werden jedoch rund 33 Prozent wieder zurückgezogen. In der Regel geschieht das dann, wenn der zuständige Richter den Kläger über den Sachstand informiert und ihm mitteilt, wie das Verfahren für ihn enden könnte. Ein weiteres Drittel aller Klagen endeten in einer Entscheidung, der Rest wurde auf andere Art, wie etwa einer außergerichtlichen Einigung oder einem gerichtlichen Vergleich beendet.

Erfolgsquote der Kläger niedrig

Die Erfolgsquote der Klagen lag im Jahr 2019 bei rund 14 Prozent zugunsten des Klägers. In rund 76 Prozent der Fälle unterlag der Kläger dem Beklagten, rund zehn Prozent endeten nur zu einem Teil zugunsten des Klägers. Das ist auch gut so, denn: „Das bedeutet, dass die Sozialversicherungsträger nach dem Gesetz handeln. Alles andere wäre ein Armutszeugnis“, erklärt Präsident Rother.

Das Sozialgericht bearbeitet Klagen, die in die Bereiche Sozialhilfe und Arbeitslosengeld, Arbeitslosenversicherung, Schwerbehindertenrecht, Rentenversicherung, Kranken- und Pflegeversicherung, Unfallversicherung, Sozialhilfe und Asylbewerberleistungsgesetz fallen. Die meisten Klagen gehen in der Kranken- und Pflegeversicherung, im Schwerbehindertenrecht, der Rentenversicherung und in Sachen Hartz IV ein. Die Zahlen sind jedoch im Vergleich zu 2018 rückläufig.

Spahn-Gesetz sorgt für Klagewelle

Ein von Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit, im Jahr 2018 verabschiedetes Gesetz machte dem Sozialgericht zu schaffen. Das Gesetz verkürzte die Verjährungszeit für Rückforderungen der Krankenkassen wegen fehlerhafter Klinikrechnungen rückwirkend bis 2017 von vier auf zwei Jahre. Das zog nach sich, dass die Krankenkassen kurzfristig in großer Zahl Klagen einreichten, bevor das Gesetz verabschiedet wurde, um die neue Verjährungszeit zu umgehen.

Waren es 2017 noch 476 solcher Fälle, die beim Reutlinger Sozialgericht eingingen, wurden es 2018 durch Spahns Gesetz satte 774. „Das war eine erhebliche Belastung für uns“, sagt Präsident Rother. Im Jahr 2019 waren es hingegen nur noch 674 Klagen, die in den Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung fallen.

„Kurzer Prozess“ in manchen Bereichen

Auch die durchschnittliche Verfahrensdauer wurde im jährlichen Bericht von den Verantwortlichen erfasst. So dauerten Prozesse, in denen es um das Schwerbehindertenrecht, um die Rentenversicherung oder Unfallversicherung ging am längsten, mit jeweils 14,5 Monaten, 14 Monaten und 13,4 Monaten Verfahrensdauer. Grund hierfür sind unter anderem medizinische Gutachten, die oft Wochen oder Monate auf sich warten lassen.

Ein Vorwurf an das Sozialgericht sei oft, dass die Verfahren zu lange dauern. „Wir würden uns aber auch freuen, wenn es schneller gehen würde“, merkte Präsident Rother an. Aufgrund solcher Gutachten, aber auch Klagebegründungen von Anwälten, die oftmals auf sich warten lassen, müsse der Prozess so lange ruhen, bis die entsprechenden Unterlagen beim Gericht eingingen.

Schneller verlaufen die Prozesse, wenn es um Hartz IV, Kranken- und Pflegeversicherungen geht. „Das sind existenzielle Fragen, schnelle Entscheidungen sind hier für die Betroffenen enorm wichtig“, sagt Rother. Die Verfahrensdauer liegt hier zwischen 7 bis 8,7 Monaten.

„Jahrhundertereignis“ in 2019

Die Zahl der Verfahren, die am Jahresende in das neue Jahr mitgenommen werden müssen, betrug 2019 genau 2716. Das sind sechs Prozent weniger als im Jahr davor, im Vergleich zum Zeitraum ab 2015 ist diese Zahl über die Jahre hinweg kontinuierlich gesunken.

Was dem Sozialgericht Ende des Jahres 2019 noch zusetzte, war die „historische“ Umstellung von Papierakten auf die sogenannte elektronische Akte, kurz E-Akte. „Es war wie ein Jahrhundertereignis“, erinnert sich Rother. Vor dem 15. Oktober vergangenen Jahres wurde nämlich der Prozess in Papierform erfasst und im Archiv des Gebäudes in Reutlingen gelagert. Damit ist seit dem schicksalhaften Tag des 15. Oktobers Schluss – zumindest teilweise.

15 Jahre Aufbewahrungszeit

Denn die bisherigen Papiere müssen mindestens 15 Jahre aufbewahrt werden. Damit ergibt sich in manchen Fällen noch eine Diskrepanz zwischen digital und physisch hinterlegten Daten. Im Sozialgericht wurde eine eigene Scannstelle hierfür eingeführt – man scanne zwischen 1 bis 3 Ordner am Tag ein, was ein großer Aufwand für die Verwaltung darstelle.

Und auch die schriftlichen Daten, die eingescannt werden, müssen noch mindestens ein Jahr im Archiv verweilen, ehe sie vernichtet werden können. Das Platzproblem ist also vorerst noch nicht wirklich behoben – dafür zahlte sich das digitale System nun bereits während der Coronakrise aus. Durch die ständige Erreichbarkeit der Daten wurde der Verwaltung ein Zugang auch vom Homeoffice aus ermöglicht. „Die elektronische Akte war in der frühen Coronazeit ein Segen“, findet Rother.

Was ändert Corona?

Apropos Corona – steigen die Klagen aufgrund der Pandemie? „Es ist einfach schwer zu sagen, wir haben im Moment noch keine Tendenz der Fallzahlen“, antwortet Rother. Was passieren könne, ist, dass durch eine geschwächte Wirtschaft und daraus resultierenden Entlassungen und Schließungen eine Klagewelle eintritt.

Ab Herbst sei ein solches Szenario denkbar, aber nicht sicher vorhersehbar. Bislang merke das Reutlinger Sozialgericht aber keine erhöhten Fallzahlen. „Es ist ja in etwa so; solange ich Leistungen erhalte, klage ich nicht“, sagt Vizepräsident Holger Grumann.

Durch die gelockerten Gesetze, wie beispielsweise die ausgesetzte Vermögensprüfung in Sachen Arbeitslosengeld, gebe es seitens der Arbeitnehmer wenig zu beanstanden. „Der Gesetzgeber hat hier mit Schnelligkeit und Großzügigkeit alle Hebel in Bewegung gesetzt“, merkt Grumann an. Insgesamt rechne die Verwaltung aber „schon mit einem Anstieg“, wie Präsident Rother ergänzt.