Balingen

Anika Heimann aus Heselwangen lebt ihren Traum als Graffiti-Handwerkerin

28.10.2019

Von Silke Thiercy

Anika Heimann aus Heselwangen lebt ihren Traum als Graffiti-Handwerkerin

© Silke Thiercy

Anika Heimann lebt ihren Traum als Graffiti-Künstlerin mit eigenem Atelier in Frommern.

Seit ein paar Wochen hat Anika Heimann ihr eigenes Atelier und bietet Graffiti-Kurse an. Mit steigender Nachfrage.

Es klackert und zischt. Zehn Männer und Frauen schütteln Spraydosen, sprühen in die Luft, machen sich daran, die Leinwand in der jeweiligen Wunschfarbe zu grundieren. Wie das geht, hat ihnen „ANI“ gezeigt. (Lesen Sie hier ein ausführliches Porträt über die Künstlerin.)

Kreativ und bescheiden

Künstlerin? Die 28-jährige zieht verschämt die Schultern ein. Nein, so möchte sie sich nicht nennen. Eher Handwerkerin. Und das, obwohl ihre Werke mittlerweile Stromkästen, Fabrikhallen oder Wohnzimmer schmücken. Die junge Frau ist kreativ – und bescheiden.

Vielleicht, weil sie kein Diplom in der Tasche hat. Aber das gibt es für ihre Kunstrichtung ohnehin nicht. Graffiti ist frei, wild, unberechenbar.

So wie der Kurs, den sie an diesem Abend gibt. Zehn Frauen und ein Mann sind angetreten, ohne jede Vorkenntnis. Und irgendwie ohne Ahnung, was auf sie zukommen wird. ANI lässt den Neulingen Zeit, um anzukommen in ihrer Welt.

Die Teilnehmer sitzen auf dem urgemütlichen Sofa, kuscheln sich in die Kissen und staunen über einen quietschgrünen Dinosaurier mit Krönchen und Zauberstab, den die Kursleiterin auf einen Perserteppich gesprayt und an die Wand ihres Büros gehängt hat.

Karriere während des Abiturs

Bis zum lebensecht wirkenden Urvieh hat es gedauert. Heimanns Karriere begann während des Abiturs. Ihre ersten Versuche mit Spraydosen waren, wie sie lachend zugibt, etwas dilettantisch. „Das waren Sachen, die nur meine Mama aufgehängt hätte und das auch nur, weil sie mich liebt.“

Dann kam „Freiraum – Balingen kreativ“ auf den Plan und die Idee, die vielen mausgrauen Stromkästen in der Stadt bunt zu machen. ANI machte mit. Und stieß mit ihrer Umsetzung auf Begeisterung.

Den eigenen Stil entwickelt

Wie sie zugibt – zu ihrer eigenen Verwunderung. Aber da sie irgendwie keinen Plan hatte, im positiven Sinn, dafür aber jede Menge Kreativität, ließ sie dem Leben freien Lauf. Lange Zeit nähte sie Sportbeutel, allesamt witzige Unikate. Die Farbdosen aber blieben ihre Favoriten.

Nach und nach entwickelte sie ihren eigenen Stil, die eigene Technik. Sie arbeitet mit Schablonen. Klingt einfach, ist aber eine riesige Fleißarbeit. Für ein lebensecht wirkendes Gesicht muss die junge Frau schon mal 20 oder mehr Folien ausschneiden. Übereinander legen. Die Farbe aufbringen, trocknen lassen, die nächste Folie schneiden.

Auch als Fotografin gefragt

Wirklich Zeit für ihre Kunst hat ANI im Moment nicht. Zum einen muss das Atelier noch renoviert werden. Zum anderen ist sie mehr als gefragt als Hochzeitsfotografin, die dem Brautpaar anschließend aus dem schönsten Foto auch ein Graffiti fürs Wohnzimmer zaubern kann. Klar, dass in einer Ecke der drei Räume ein Fotostudio steht.

Klar aber auch, wenn jemand die 28-Jährige bucht: Es ist jede Menge Spaß. Meistens, erzählt sie, sind die Herren zögerlich. Sobald sie aber merken, wie viel Spaß sie vor der Kamera hätten, hätten sie mehr Freude als ihre frisch Angetrauten und würden absolut aus sich heraus gehen.

Auf Menschen einlassen

Das nämlich kann ANI auch. Sich auf die Menschen einlassen, mit denen sie arbeitet. An diesem Abend ist eine Selbsthilfegruppe bei ihr zu Gast. Die Teilnehmer haben Ängste, Panikattacken, Depressionen.

Sie sollen für zwei, drei Stunden die Krankheit vergessen oder auf die Leinwand bannen. Die erste Hürde für viele: werden sie sich hinter der Maske, die sie vor den nicht wirklich gesunden Farbdämpfen schützen soll, wohl fühlen?

Die junge Frau geht behutsam vor. Lässt jedem und jeder das eigene Tempo. Jeder darf ausprobieren, wie sich eine Spraydose in der Hand anfühlt. Darf auf dem mit Holzplatten ausgelegten Atelierboden Probestriche ziehen. Seine Lieblingsfarben aussuchen. Seine Leinwand grundieren.

Während diese trocknen, gibt es im Nebenraum Theorie. Gar nicht trocken vermittelt die junge Frau, die in Heselwangen wohnt, was Graffiti eigentlich ist. Nicht nur in ihren Kursen geht sie auf das Thema des erlaubten Sprayens ein.

Bei Kommunen gefragt

ANI ist bei Städten und Kommunen gefragt, wenn es um illegale Schmierereien geht. Viele Bürgermeister kontaktieren sie und suchen um Rat. Ihr Tipp: „Wenn man den Leuten Wände zur Verfügung stellt, ist das schon mal gut.“

Und, das hat sie auch in Balingen beobachtet, professionell gesprayte Graffitis werden so gut wie nie von irgendwelchen Schmierereien verunstaltet. Da hätten die Leute wohl Respekt.

Das erste Graffiti

Dann leitet sie den zweiten Kursteil ein. Niemand hat mehr Bammel, Mund und Nase hinter der Maske zu verbergen. Denn jeder hat sich bereits seine Schablone ausgeguckt. Sich Gedanken über die Farben gemacht. ANI erklärt. Hilft, gleicht Farbpatzer aus. Nach drei Stunden hält jeder sein erstes eigenes Graffiti in den Händen.

Und weiß eine Menge über eine Kunst, die eigentlich in den Metropolen der Welt zu Hause ist und jetzt eine vehemente Vertreterin im beschaulichen Frommern gefunden hat. Worüber die Schwäbin selbst ganz happy ist: „Hier guckt niemand ins Schaufenster und stört mich beim Arbeiten“, sagt sie.

Denn das muss sie, Arbeiten. Die Kunden stehen Schlange bei ihr. Und auch die nächsten Ausstellungen wollen vorbereitet werden. Nach der Premiere in Bisingen und den Kunst- & Kulturtagen in Haigerloch war sie 2019 in Böblingen gebucht. Der dortige, neu gewählte Bürgermeister, war über ihre Homepage auf ANI aufmerksam geworden. „Er fand meine Sachen irgendwie cool.“

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