Balingen

Als Fotograf auf der Corona-Intensivstation in Tübingen: „Man sieht die Angst in den Augen“

22.08.2021

Von Michael Würz

Als Fotograf auf der Corona-Intensivstation in Tübingen: „Man sieht die Angst in den Augen“

© Michael Würz

Er war mit der Kamera auf der Intensivstation: Tobias Wuntke aus Burladingen.

Tobias Wuntke aus Burladingen hat den Corona-Alltag auf der Intensivstation der Uniklinik Tübingen dokumentiert. Einblicke in sein Werk gab er im Rahmen der World-Press-Photo-Ausstellung am Sonntag im „Time Out“ in Balingen.

Am Ende versteht Tobias Wuntke die Welt nicht mehr: Wie kann es sein, dass täglich bis zu 25.000 Besucher in den Europa-Park dürfen? Ausgerechnet jetzt, da das Virus doch an Gefährlichkeit noch einmal zugelegt habe. Und dass die Politik künftig erst auf steigende Klinikzahlen reagieren will – für den Burladinger ist das nicht nachvollziehbar. Nicht nach alledem, was er im vergangenen Winter gesehen hat.

Mit viel Empathie auf der Station

Wuntke ist der Fotograf, der den Corona-Alltag auf der Intensivstation der Uniklinik Tübingen dokumentiert hat. Wie die Jungfrau zum Kinde sei er – unter anderem als Hochzeitsfotograf normalerweise zuständig für die schönen Dinge im Leben – zu dieser Aufgabe gekommen, berichtete er bei der vom ZOLLERN-ALB-KURIER veranstalteten Matinée im Rahmen der World-Press-Photo-Ausstellung in Balingen.

Tobias Wuntke schießt mehr als 1000 Fotos

„Ich bin ins kalte Wasser gesprungen, als die Klinik mich angefragt hat“, sagt Wuntke, dessen mehr als 1000 Fotos umfassendes Werk sicherlich eines der bedeutendsten zum Thema in Deutschland ist – und sich einreiht in einige wenige herausragende Klinikdokumentationen während der Pandemie weltweit. „Von ihm werden wir in Zukunft noch viel hören“, hatte ZAK-Verleger Daniel Welte jüngst bei der Eröffnung der World-Press-Photo-Ausstellung prophezeit.

Als Fotograf auf der Corona-Intensivstation in Tübingen: „Man sieht die Angst in den Augen“

© Michael Würz

Fasziniert von der Arbeit des Fotografen, schockiert darüber, was das Virus anrichten kann: gebannt lauschende Besucher im „Time Out“.

Geradezu meisterhaft gelingt Wuntke in seiner Foto-Reportage der sensible Spagat: Seine Aufnahmen zeigen den ungeschönten Alltag auf der Corona-Intensivstation, auch den Tod, einerseits. Andererseits zeichnen sich Wuntkes Aufnahmen durch eine äußerst empathische Bildsprache aus, die vom Respekt des Fotografen gegenüber Patienten, Ärzten und Pflegekräften zeugt.

Die Schutzausrüstung schlaucht alle, auch den Fotografen

Nichts wäre dem durchaus schüchternen Burladinger unangenehmer „als im Weg rumzustehen“. Und niemals wäre er mit sich im Reinen, würden seine Aufnahmen Patienten bloßstellen. Zumal Wuntke in seinen „Schichten“ hautnah erlebt, was Corona für das Klinikpersonal bedeutet. Wuntke lichtet nicht nur völlig erschöpfte Ärzte und Pfleger ab, gezeichnet vom stundenlangen Tragen ihrer Schutzausrüstung. Auch Wuntke selbst stecken sie – natürlich – in Plastikkleidung, Brille, FFP3-Maske.

Als Fotograf auf der Corona-Intensivstation in Tübingen: „Man sieht die Angst in den Augen“

© Michael Würz

Ein Anliegen der Ausstellungsmacher: Sie wollen das Thema Fotografie in die Stadt tragen. Die Matinée im Time Out war ausgebucht.

Hier, abgekoppelt von der Außenwelt, mache Corona alle gleich, schilderte der Fotograf dem gebannt lauschenden Publikum im „Time Out“. Durch die Schutzausrüstung sei auch auf den zweiten Blick nicht gleich zu erkennen, wer Arzt oder Ärztin, Pfleger oder Pflegerin ist, oder eben: der Fotograf mit der Sondergenehmigung. „Bei meinem ersten Einsatz war ich total erschlagen ob der Eindrücke“, erzählt Wuntke.

„Ein Mann in meinem Alter, nur noch Haut und Knochen“

Vor allem aber findet der Burladinger „unglaublich, was dieses Virus mit Menschen anrichten kann“. Mit dem jungen Mann auf der Intensivstation etwa, an den er sich gut erinnert. „Er hatte mein Alter und war nur noch Haut und Knochen.“ Oder mit dem Patienten, von dem sie alle dachten, er sei übers Gröbste raus und auf dem Wege der Besserung. Doch als Wuntke ein paar Tage später wieder kommt, ist der Mann weg. „Ich dachte, er sei nun auf die Normalstation verlegt worden“, erinnert sich Wuntke. Tatsächlich aber hatte sich der Zustand des Mannes plötzlich rasant verschlechtert. „Er hat es nicht geschafft.“

Als Fotograf auf der Corona-Intensivstation in Tübingen: „Man sieht die Angst in den Augen“

© Michael Würz

Harte Kost statt Eis zum Mitnehmen: Matinée mit Einblicken auf die Intensivstation im Time Out.

Wuntke erinnert sich an Menschen, die „mit jedem Atemzug gekämpft haben“. Er sagt: „Man sieht dann die Angst in den Augen der Menschen.“ Wuntkes Arbeit macht sichtbar, was den allermeisten Menschen verschlossen bleibt. Seine beiden Kameras wurden zu den Augen der Öffentlichkeit, Wuntke gibt den Zahlen in den Nachrichten Gesichter. Und er zeigt, was eine Corona-Welle für diejenigen bedeutet, die an vorderster Front um jeden Patienten, jede Patientin kämpfen.

Die Belastung für das Klinikpersonal ist enorm

Genau diese Situationen gelte es doch zu verhindern, mahnt Wuntke, beinahe verzweifelt hadernd mit den jüngsten Entscheidungen der Politik. Wuntke findet: „Die Frage ist doch nicht, wie viele Covid-Patienten für eine Intensivstation leistbar sind.“ Ginge es nach Wuntke, müsste die Frage vielmehr lauten: „Wie verhindern wir noch mal eine solche Situation?“

Als Fotograf auf der Corona-Intensivstation in Tübingen: „Man sieht die Angst in den Augen“

© Michael Würz

Moderator Thomas B. Jones im Gespräch mit Tobias Wuntke.

Vielleicht sind es aber ja genau seine Bilder, die zumindest die Kraft haben, aufzurütteln. Die zwischenzeitlich nicht nur in der Uniklinik ausgestellt sind, sondern auszugsweise auch in einer Fotostrecke beim „Spiegel“ zu sehen sind.

Und die, wie Moderator Thomas B. Jones am Sonntag spekulierte, vielleicht im nächsten Jahr ja selbst in der World-Press-Photo-Ausstellung zu sehen sein werden – wenn beim nächsten Mal die besten Fotos der Welt gekürt werden.

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