Aggressive Stimmung auf Demos: „Es fehlt an Medienkompetenz“

Von Michael Würz

Wie gefährlich ist die Berichterstattung von Demos? Muss die Polizei Journalisten besser schützen? Erfahrungen aus erster Hand trafen am Mittwochabend in der Stadthalle Balingen aufeinander: Auf Einladung des ZOLLERN-ALB-KURIER diskutierten Journalisten und der Prodekan der Hochschule für Polizei in Baden-Württemberg, Jürgen Renz, im Rahmen der World-Press-Photo-Ausstellung über die Sicherheit von Reportern.

Aggressive Stimmung auf Demos: „Es fehlt an Medienkompetenz“

Ein drängendes Thema im Rahmenprogramm der World-Press-Photo-Ausstellung: Reporter in Gefahr.

Fernsehteams, die nur noch mit Sicherheitsleuten von Demos berichten. Fotografen, die aggressiv angegangen werden. Haben sich da Grenzen verschoben? Ja, sagt der Stuttgarter Fotojournalist Julian Rettig, der seit Jahren Demonstrationen dokumentiert. Die Zäsur allerdings sei nicht erst mit der „Querdenken“-Bewegung aufgekommen. „Eigentlich war es bereits Pegida, 2015“, meint der Stuttgarter. „Da wurden die Grenzen des Sagbaren verschoben.“

„Lügenpresse, ein furchtbarer Begriff“

Doch manche Parole ist geblieben. Auch wer von „Querdenken“-Demos berichtet, sieht sich „Lügenpresse“-Rufen ausgesetzt. „Ein furchtbarer Begriff“, findet Jürgen Renz, Prodekan der Hochschule für Polizei in Baden-Württemberg. „Aber auch Blödsinn auf der Straße muss erlaubt sein“, betont er, der als polizeilicher Beobachter häufig selbst dort vor Ort ist, wo es brenzlig wird. Renz, der im Sinne der Lehre mit Demonstranten spricht und wissen will, woher die aggressive Stimmung kommt, sagt: „Es fehlt ganz eindeutig an Medienkompetenz.“ Viele seien gar davon überzeugt, dass Journalisten wie Julian Rettig sie gar nicht fotografieren dürften. Renz betont: „Und wie die das dürfen!“

Doch wie können Journalisten bei ihrer Arbeit geschützt werden? Sind es Safety-Points, an die sich Journalisten wenden können, wenn sie in Bedrängnis geraten? In Stuttgart haben sie dieses Konzept getestet. Dahinter aber stehe ein enormer personeller Aufwand für die Polizei, merkt Renz an, der weiß: „Dort, wo es kracht, wird es nie einen hundertprozentigen Schutz geben.“

Fürs gesamte Bild: Journalisten müssen vor Ort recherchieren

Und obwohl auch sie schon einmal dankbar für den Turbo-Gang ihres E-Bikes gewesen sei, wird Christine Bilger, Polizeireporterin von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten, auch bei der nächsten Demo wieder draußen sein. „Wir müssen das sogar“, betont sie. Denn der Polizeibericht bilde allein die Sicht der Polizei ab. „Wir müssen auch die Sicht der Demonstranten kennen, mit Passanten, mit Einzelhändlern am Wegesrand sprechen, um das ganze Bild zu bekommen.“ Bilger, Mitglied des Landesvorstands des Deutschen Journalisten-Verbands in Baden-Württemberg, weiß deshalb genau, wie sich die Demos in der Stadt zuletzt entwickelt haben. Sie kennt Vorfälle, bei denen Journalisten der Mund-Nase-Schutz geklaut wurde, die geschlagen wurden.

Die Zeitungsredakteurin, die vor Jahren bereits nah dran war an den Protesten gegen Stuttgart 21, sagt: „Mit der Querdenken-Bewegung kamen Dinge, die wir im relativ behüteten Stuttgart bislang nicht kannten.“ Manche seien abgehängt, konstatiert sie. „Vielleicht waren die Medien lange Zeit auch etwas übermotiviert, diejenigen zu hören.“ Dabei sei es doch so: Wer „Lügenpresse“ ruft, meine schlicht Fakten, die diejenigen nicht hören wollen.

Polizeiausbilder Renz sorgt sich vor allem um die „Generation Click“, die Informationen und Quellen selten überprüfe. Gerade unter „Querdenkern“ tummeln sich zahlreiche „Medienschaffende“, die ausgerüstet mit Kamera-Equipment ihre eigenen Kanäle im Internet bespielen. Und sich selbst mit Presseausweisen ausstatten, teils von dubiosen Anbietern im Internet, mitunter auch mal selbstgebastelt. Polizeireporterin Bilger hat sie auf der Straße alle gesehen und sagt: „Je größer der Ausweis, desto faker.“

Hochschule für Polizei will das Thema im Studium ausführlicher behandeln

Presseausweise hingegen, die die zuständigen Verbände nur nachweislich hauptberuflichen Journalisten ausstellen, blieben bei diesen eher in der Tasche: „Mir hat mal jemand versucht, meinen Presseausweis zu klauen“, berichtete Julian Rettig. Damit wäre auch Rettigs Privatanschrift in die Hände des Diebes gelangt. Die Lage zwischen Fake-News und Fake-Presseausweisen ist also reichlich unübersichtlich. „An diesem Thema werden wir bei der Polizei viel mehr arbeiten müssen“, ist Polizeiausbilder Renz sicher. Er wolle ihm mehr Raum im Studium geben, angehende Kommissare auch besser vertraut machen mit dem bundeseinheitlichen Presseausweis. Jürgen Renz sagt: „Da machen wir jetzt richtig was.“

Renz wünscht sich, dass junge Polizisten Multiplikatoren innerhalb der Polizei werden. „Wir haben eine sehr gute Ausbildung im Verfassungs- und Presserecht“, sagt Renz, „daran mangelt es nicht“. Allerdings „müssen wir ein bisschen mehr machen, was den persönlichen Umgang mit Reportern vor Ort auf Demos anbelangt“, bilanziert der Prodekan der Hochschule selbstkritisch. Ohnehin sieht Renz die Polizei nach den Erfahrungen mit der „Querdenken“-Bewegung, aber auch etwa propalästinensischen Kundgebungen zwischen allen Stühlen: „Wir müssen Veranstaltungen beschützen von Leuten, die uns nicht mögen.“

„Querdenker“: aggressive Durchschnittsbürger

Und die „Querdenker“ lassen selbst den Polizeitaktik-Experten ratlos zurück: „Da steht der 50-jährige Durchschnittsbürger plötzlich aggressiv vor einem“, sagt Renz. „Im Zweifel habe ich lieber Hooligans vor mir.“ Denn die „Querdenken“-Bewegung sei schwerer einzuschätzen, unberechenbarer. „Sie denken wirklich quer.“

Pressefotograf Rettig vermutet, dass von den „Querdenkern“ ein kleiner, radikalisierter Kern übrig bleibt, der nach Corona neue Themen für sich entdeckt. Als Moderator Thomas B. Jones die Runde um eine Zukunftsprognose bittet, sagt Rettig: „Vielleicht werde ich künftig irgendwo ein Fluchtauto stehen haben müssen.“ Das Publikum schmunzelt. Rettig meint es ernst.

Noch bis Sonntag: Preisgekrönte Fotos

Die Diskussion über „Reporter in Gefahr“ war Teil des vom ZOLLERN-ALB-KURIER veranstalteten Rahmenprogramms der World-Press-Photo-Ausstellung in Balingen. Das Rahmenprogramm endet heute mit dem Foto Slam, bei dem ab 19 Uhr im kleinen Saal der Balinger Stadthalle (Hobby-)Fotografen um die Gunst des Publikums buhlen. Die Ausstellung selbst ist noch bis einschließlich Sonntag für Besucher geöffnet.