FUSSBALL

Abstieg abschaffen, Amateure abgrenzen: Nico Willig kritisiert DFB-Reform im Jugendfußball

25.01.2021

Von Marcel Schlegel

Abstieg abschaffen, Amateure abgrenzen: Nico Willig kritisiert DFB-Reform im Jugendfußball

© Eibner/Weber

Nico Willig aus Heselwangen ist U19-Trainer beim VfB Stuttgart

Der DFB und die DFL haben ein Konzept vorgelegt, dass den professionellen Jugendfußball radikal verändern könnte und unter anderem auch die U19 des VfB Stuttgart um dessen Trainer Nico Willig betreffen wird. Der frühere Balinger sieht die Pläne kritisch.

2013 war es, da bescherte Nico Willig dem Jugendfußball im Bezirk Zollern einen bis heute unerreichten Erfolg. Als Trainer der U19 der TSG Balingen feierte Willig damals die baden-württembergische Meisterschaft. Erstmals hätte damit eine A-Jugend aus dem Zollernalbkreis in die Bundesliga Süd/Südwest aufsteigen und sich mit den größten Vereinen aus Deutschlands Süden messen dürfen, mit dem Nachwuchs des FC Bayern München beispielsweise, mit der A-Jugend vom VfB Stuttgart, der U19 des SC Freiburg, 1. FC Nürnberg oder der TSG 1899 Hoffenheim.

Die Balinger verzichteten seinerzeit auf den Bundesliga-Einzug. Zu stark sei die Konkurrenz, zu gering der mutmaßliche Lerneffekt. Außerdem sei der Aufwand, den die höchste deutsche Spielklasse im Jugendfußball mit sich bringt, für einen Amateurklub vor allem logistisch und wohl auch finanziell nicht zu stemmen, begründeten sie. Die internatsähnlichen Nachwuchsleistungszentren (NLZ) der wirtschaftlich, personell und organisatorisch deutlich besser aufgestellten Lizenzklubs – natürlich im Vorteil.

Amateurklub versus NLZ: Walldorf mischt mit

Zwar sind in der Süd/Südweststaffel die U19-Teams der Profivereine aus Bundesliga, 2. und 3. Liga weitgehend unter sich; mit dem Südwest-Regionalligisten FC Astoria Walldorf stellt lediglich ein echter Amateurverein ein Team im südlichen Oberhaus. Die Kurpfälzer indes wissen die personelle, finanzielle und fachliche Unterstützung unter anderem von SAP-Milliardär Dietmar Hopp und von dessen Stiftung gegründeten Jugendsportförderung „Anpfiff ins Leben“ hinter sich. Dazu kommen noch die Nachwuchsteams der beiden Regionalliga-Südwest-Profiklubs aus Ulm und Offenbach.

Doch wenn es nach dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball-Liga (DFL) geht, sollen Beispiele solcher Underdogs in der U19-Bundesliga ohnehin demnächst passé sein – und mit ihnen die Junioren-Bundesliga in ihrer aktuellen durchlässigen Form selbst.

Denn DFB und DFL planen die Struktur des Jugendfußballs offenbar schon zur Saison 2022/23 radikal zu verändern. Neben zahlreichen weiteren Modifikationen sollen im Oberhaus der U19 und der U17 künftig lediglich die A- und B-Junioren jener 56 deutschen Top-Vereine aufeinandertreffen, die über ein NLZ verfügen. U-Teams von Amateurvereinen wären dann vom professionellen Jugendbereich ausgeschlossen. Die Elite bliebe unter sich. Absteiger gäbe es nicht mehr. Überraschungs-Aufsteiger aber ebenso wenig. Ein bisschen wie in den US-amerikanischen Profi-Sport-Ligen. Jedenfalls: Balingen oder Walldorf in der Bundesliga? Vorbei, die Zeit.

DFB und DFL wollen den „Straßenfußballer“ fördern

Die von DFB und DFL erhoffte Wirkung: NLZ-Trainer, die unter erheblichem Druck stehen, aus Jungspielern Bundesliga-Profis zu formen, könnten ihren Fokus vermehrt auf die Genese ihrer Nachwuchsfußballer richten, die Tabelle auch mal Tabelle sein lassen, mehr ausprobieren, eine eigene Handschrift kreieren – und müssten sich weniger an kurzfristigen Erfolgen orientieren. Der einzelne Spieler würde wieder mehr in den Fokus rücken, der Typ „Straßenkicker“ wieder öfter dem normkonformen Passspiel-Prototypen weichen, den die einstmals viel gelobte DFB-Strategie über leistungsorientierte NLZ-Mechaniken und faktisch uniforme Stützpunkt-Lehrgänge viele Jahre lang zuverlässig hervorbrachte – und die angesichts von zusehends mangelnden Erfolgen in den letzten Jahren zum Auslaufmodell zu verkommen scheint, so argumentiert jedenfalls sinngemäß der DFB.

Anders gesagt: Leistung solle weniger Ergebnisorientierung und mehr Individualförderung bedeuten, der Ausbildungscharakter über dem Wettbewerb stehen, meint der DFB, der den deutschen Jugendfußball im internationalen Vergleich immer mehr abgehängt sieht. Der Hauptgrund für den revolutionären Anlauf, der beim DFB unter dem Titel „Projekt Zukunft“ firmiert.

Krücken vom VfB: „Trainer geben den Druck weiter“

Nico Willig nun kann den Reformplänen, die er in Zeitpunkt, Inhalt und Tiefe als „überraschend, komplex und radikal“ beschreibt, einige positiven Aspekte abgewinnen. Auch der Balinger, der seit 2018 die U19 des VfB trainiert, mit dieser 2018/19 den DFB-Pokal und den Bundesliga-Staffelsieg holte und auch in der derzeit ausgesetzten Saison die Tabelle anführt, findet zum Beispiel, dass sich der professionelle Jugendfußball zu sehr an konkreten Spielergebnissen ausrichten und insgesamt zu kurzfristig denken würde.

Das zeige sich auch in der U19-Bundesliga: Zum Beispiel gäbe es dort immer wieder Vereine, die ihre U-Teams um jeden Preis in der höchsten Klasse halten wollten, dem Ergebnis alles unterordnen würden „und Spiele mit ihrer destruktiven Spielweise zerstören“ oder Trainer, „die auf Ergebnis und nicht auf Entwicklung ausbilden“, sagt der 40-jährige Jugendfußballexperte, der damit an die Aussagen seines Chefs Thomas Krücken, Leiter des Stuttgarter NLZ, anschließt, der der „Sportschau“ sagte: „Der Trainer ist der Schlüssel. Viele Trainer geben den Druck nur weiter, den sie selbst spüren.“

A-Jugend ohne Auf- und Abstieg – (k)eine gute Idee

Dennoch zweifelt Krücken und mit ihm Willig am Kern der geplanten Neuerungen, der sich auf die älteren U-Jahrgänge bezieht. Sie teilen weitgehend die Meinung vom renommierten Nachwuchsfußballexperten und aktuellen Union-Berlin-Manager Oliver Ruhnert, der zu den prominenten Kritikern der U19-Reform des „Projekt Zukunft“ gehört. „Ich finde, dass man in dieser Altersstufe den ergebnisorientierten Wettbewerb nicht abschaffen darf“, sagt der Heselwanger Willig deckungsgleich mit Krücken und Ruhnert. „Für die Jungs ist das die letzte Altersstufe vor der U21 oder U23, also vor dem Profibereich“, so Willig. „Da kann man nicht ohne Abstieg spielen wie bei den Bambini. Es muss um etwas gehen im Fußball, Erfolg ist Motivation, Antrieb und Orientierung.“

Einig sind sich die Experten von DFB und aus den meisten Topvereinen derweil darin, dass eine bloße Ausrichtung an Tabellen, Titeln und Abstiegen nicht der Hauptgrund dafür sind, dass die individuelle Qualität der Nachwuchsfußballer nachzulassen scheint, dass solche „Spielentscheider“, wie diese Willig nennt, hierzulande immer mehr fehlen. Die Probleme scheinen gravierender zu sein und tiefer zu gehen. Willig findet: „Der Spieler lernt durch Tabellen mit einem gewissen Druck umzugehen und entwickelt eine Stressresistenz, die er im Herrenbereich benötigt. Also sollte er in der letzten Altersstufe schon damit konfrontiert werden.“

Anti-Abwerbe-Anstrengungen

Auch halte er in diesem Aspekt die „grundsätzliche Intention“ des DFB-Strategiepapiers für nicht zielführend, so der frühere TSG-Jugendkoordinator, -Spieler und -Trainer. „Wir schaffen damit eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, eine Abgrenzung zwischen NLZ und Amateurvereinen, die es innerhalb einer Sportart nicht geben darf, schon gar nicht im Nachwuchsbereich.“

Wie Ruhnert warnt Willig weiterhin vor sozialen Dynamiken, die sich aus der angedachten Neu-Strukturierung ergeben könnten: Etwa, dass ambitionierte Eltern ihre Kids noch früher in ein NLZ stecken, um so zu vermeiden, dass der Profi-Zug ohne ihren Nachwuchs abfährt. „So entziehen wir mutmaßlich den kleineren Vereinen zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihre talentierten Spieler, solche, die eben die geforderte individuelle Klasse haben, bei ihren Vereinen Spiele alleine entscheiden können und ballen diese stattdessen in den Nachwuchsleistungszentren.“

Anders gesagt: Man beschränke die Basis in ihren Möglichkeiten und damit den Unterbau der Amateurklubs, die den Profifußball an der Spitze doch eigentlich nähren sollen; man nähme Spielern wie (Amateur-)Vereinen die Chancengleichheit und entziehe den zunächst bei den NLZ abgelehnten Spielern die Möglichkeit, sich „über den zweiten Bildungsweg“ erneut bei den Profiklubs zu bewerben, sagte Ruhnert in der „Süddeutschen Zeitung“: Das ginge ihm zu weit, nämlich „an die Essenz des Sports“.

Auch kann der Manager von Union Berlin, der unter anderem die „Knappenschmiede“ des FC Schalke 04 leitete, sich vorstellen, dass die Vereine ihre besten A-Jugendspieler künftig früh- und vorzeitig in die U23 hochziehen, wo der Leistungsgedanke im Ligabetrieb bestehen bleibt. Diese Abkürzung würde die Idee von DFB und DFL konterkarieren und den U19-Teams erneut die besten Spieler rauben. Willig ergänzt: „Überspitzt ausgedrückt spielt dann am Ende nur noch das ambitionierte Mittelmaß in den U19-Ligen und dann verwässert die Geschichte.“

Was müsste besser werden?

Wo aber würde der VfB-Trainer selbst ansetzen? Auch hier ist Willig grundsätzlich einer Meinung mit Ruhnert und Krücken. Die Antwort: Bei den Jugendtrainern der NLZ, also gewissermaßen bei sich selbst. Diese stünden unter einem enormen Leistungsdruck, müssten zu oft vorzeitig abdanken, wenn sie die gewünschte Tabellenplatzierung verfehlten. Nicht an der Tabelle, sondern daran, ob die Nachwuchsleitung es schafft, Spieler besser und sie zu Profis zu machen, das müsse der Spiegel des Erfolgs eines NLZ-Trainers sein, meint Willig, der selbst im dritten Jahr Stuttgarter U19-Coach ist – für die Spielklasse nicht selbstverständlich. „Die Fluktuation bei Trainern wie Spielern sollte geringer werden.“

Das Abwerben von Jugendspielern, die oft über die regionalen Grenzen hinweg durch die gesamte Republik pendeln, herausgezogen werden aus ihrem Umfeld, auch das sollte erschwert werden, erklärt Nico Willig. Ein anderes, seiner Meinung nach problematisches Phänomen: das Vereins-Hopping, also dass Nachwuchskicker, die es bei Verein A nicht packen, statt den Wettkampf anzunehmen, neue Anläufe bei Klub B und C nehmen, von ihren Beratern damit bei anderen Bundesliga-Nachwuchsteams untergebracht werden, teils mehrfach bundesweit umziehen – begleitet von Geldbündeln und dem sättigenden Gefühl, es doch irgendwie geschafft zu haben. „So weicht man Widerständen aus, anstatt an diesen zu wachsen. Und ohne Widerstandsfähigkeit reicht es nicht für das höchste Level.“

Vor allem aber mahnt Willig dazu, dass auch Jugendcoaches in den NLZ wie Nachwuchsspieler kontinuierlich aufgebaut werden müssten. Zu oft würden frischgebackene A-Lizenz-Trainer mit Bestnoten Spielern im Kinder- oder Jugendlichen-Alter begegnen wie erwachsenen Fußballern, zu sehr taktisch ausbilden, zu wenig altersgerecht, moniert Krücken. Willig sagt daher: „Was wir brauchen, ist mehr Kontinuität und Stabilität. Wir müssen Trainer als Altersexperten begreifen und sie auch so ausbilden.“

Das sagt der WFV zu den Plänen

Gegen das Konzept regt sich in einzelnen Landesverbänden bereits Widerstand, insbesondere jene Amateurvereine, die es immer mal wieder in die U-Bundesliga schaffen, protestieren gegen die Pläne des DFB, der sein Projekt schon im Frühjahr in eine Pilotphase schicken möchte – sofern Corona will. Wir haben deshalb den Württembergischen Fußballverband (WFV) per Mail nach dessen Position gefragt und von Pressesprecher Heiner Baumeister diese schriftlichen Antworten erhalten.

Wie ist die Position des WFV bzgl. der Reformpläne des DFB?

Baumeister: Nach Abstimmung in den Gremien des WFV – u.a. dem Verbands-Spielausschuss, dem Jugend-Ausschuss und dem Ausschuss für Qualifizierung und Leistungssport – steht der WFV vielen Aspekten des Konzepts im Grundsatz positiv gegenüber. Andere Teilbereiche wiederum wurden kontrovers diskutiert, so dass hier noch keine abschließende Haltung des WFV abgeleitet werden kann. Wir stehen darüber hinaus im engen Austausch mit den Landesverbänden im Süddeutschen Fußballverband und werden in diesem Rahmen gemeinsame Positionen zum „Projekt Zukunft“ erarbeiten.

Würde der WFV Widerstand leisten?

Baumeister: Klar ist, dass sich durch das DFB-Konzept auch Auswirkungen auf den Verantwortungsbereich der Landesverbände ergeben würden. Wir werden uns konstruktiv und lösungsorientiert in die Abstimmung einbringen und alle Argumente unvoreingenommen prüfen. Wir werden sicherlich nach abschließender Betrachtung aller Aspekte eine entsprechende Veröffentlichung vornehmen.

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