Balingen

100 Jahre Frauenwahlrecht: Drei Zeitzeuginnen erinnern sich in Balingen

10.03.2019

von Silke Thiercy

„Zeit und Bildung fehlten“: Drei Zeitzeuginnen erinnerten sich bei der Finissage zur Ausstellung 100 Jahre Frauenwahlrecht in der Balinger Zehntscheuer. Yasemin Kurt referierte über die Rolle der Frau im Islam.

Die Prinzessin braucht keinen Held, der auf dem weißen Schimmel reitet. Das weiß Sigrid Maute. Die Märchenerzählerin zog am Freitagabend die Besucher in der Balinger Zehntscheuer mit Sagen über starke Frauen aus China oder dem Orient in ihren Bann. Passend gewählt zur Finissage der Ausstellung „100 Jahre Frauenwahlrecht“.

100 Jahre Frauenwahlrecht: Drei Zeitzeuginnen erinnern sich in Balingen

© Silke Thiercy

Für Entspannung zwischen all den Informationen sorgten der Leiter der Balinger Jugendmusikschule, Dirk Benkwitz, mit seinen beiden Klarinetttenschülerinnen Fanny Zettl und Julia Roth. Sie sorgten für die Musik bei der Finissage „100 Jahre Frauenwahlrecht“ in der Balinger Zehntscheuer – ein zum Weltfrauentag passend gewählter Termin.

Ein wenig mag es den Besuchern der Finissage gegangen sein wie den Frauen, die 1919 zum ersten Urnengang antreten durften: sie wussten anfangs nicht so recht Bescheid. Die einen fragten sich, ob die von Muslimas zubereiteten kulinarischen Köstlichkeiten vor oder erst nach dem Programm verzehrt werden durften.

Die anderen, vor Jahrzehnten, ob sie denn nun den Vater fragen mussten, wo sie ihr Kreuz setzen sollen. Irgendwann aber griffen sowohl die Besucher (zu gefüllten Weinblättern) als auch die heutigen Großmütter (zum Wahlzettel) zu.

Acht sind über Hundert Jahre alt in Balingen

Kuratorin und Stadtarchivarin Dr. Yvonne Arras und ihre Kollegin Elke Etter hatten berührende Zeitzeugnisse im Gepäck. Bei den Vorbereitungen zur Ausstellung lebten in Balingen acht über Hundertjährige.

Diese schrieben sie an, baten um Interviews. Vier sagten zu, zwei verstarben in der Planungsphase. Else Rehfuß, Jahrgang 1916, und Mathilde Blind, zwei Jahre älter, traten schließlich mit ihren Erinnerungen vor die Kamera. Mucksmäuschenstill war es im Museum, als die beiden betagten Damen via Beamer erschienen.

Zeitzeugin: Zeit und Bildung fehlten damals

„Die Zeit und die Bildung fehlten, die Frauen haben als Heimarbeiterinnen für die hiesigen Handschuhfabriken gearbeitet“, erinnert sich Else Rehfuß. Zeit für ein Amt im Rathaus? Fehlanzeige in Zeiten vor Staubsauger und Waschmaschine.

Sie war übrigens Wahlhelferin im Dritten Reich. Und nein, damals sei das nicht wirklich eine geheime Wahl gewesen. Lachend gibt sie der Kamera preis: „Ich habe anfangs nur Männer gewählt, denen habe ich mehr zugetraut.“ Gewählt hat sie immer. Denn die Eltern sagten: „Ein Wahlrecht ist auch eine Wahlpflicht.“

Frauen kennen sich manchmal besser aus und haben andere Gedanken

Schütteres Haar, brüchige Stimme, aber eine lebendige Erinnerung. Mathilde Blind ist hellwach, wenn sie an ihre erste Wahl denkt. „Ich habe mit den Eltern gesprochen, was man so wählt.“ Dann lacht auch sie. „Frauen kennen sich in vielen Bereichen besser aus als Männer und kommen auf Gedanken, die denen gar nicht einfallen.“

Die dritte Zeitzeugin im Film ist Helene Nörig, geboren 1927. Ihr erster Urnengang war nach dem Krieg. „Wir gingen mit Hut und Handschuhen ins Wahllokal“, erinnert sich die Balingerin. Danach gab es einen Umtrunk mit den Freunden. „Es war ein schöner Tag der Pflichterfüllung.“

Bürgermeister Reinhold Schäfer stand im Namen von Stadt und Landkreis am Podium, nannte die Ausstellung „ein erfolgreiches Projekt“ mit all den Begleitveranstaltungen. Und lauschte aufmerksam, dem Vortrag von Yasemin Kurt.

Die 37-jährige Ludwigsburgerin hat Philosophie und Englisch studiert und stellte in ihrem Impulsvortrag die Rolle der Frau im Islam dar. Seit Jahren setzt die in Deutschland aufgewachsene Muslima sich für den interreligiösen Dialog ein. Ihr Vortrag wurde von vielen Kopftuch tragenden Frauen mit dem Handy gefilmt.

Islamisches Frauenbild ist geprägt von den Medien

Im siebten Jahrhundert, als der Islam entstanden ist, besaßen die Frauen eigene Kamele und gingen auf Reisen, so die Referentin. Der Prophet selbst, das würden Quellen belegen, habe im Haushalt geholfen.

Das islamische Frauenbild heute sei geprägt von der Darstellung in den Medien. Und sie zog eine Grenze zwischen dem politischen und dem sufistischen Islam, der sich rein am Koran orientiere.

„Im Glauben gibt es keinen Zwang“, habe der Prophet gesagt. Und auch, dass es keine Geschlechterunterschiede gäbe. In den Suren würden Mann und Frau immer im selben Atemzug genannt.

Kurt schient zu wissen, dass das auch von ihr getragene Kopftuch in der westlichen Gesellschaft immer wieder für Irritation sorgt. Sie nimmt kritische Fragen vorweg. Das Gebot der Bedeckung gäbe es auch für Männer.

Diskussion um Verhüllung

Sie müssten sich vom Knie bis zum Bauchnabel bedecken. Und sie kritisiert das Kopftuchverbot in der Türkei. Manch eine Muslima bleibe deswegen lieber zu Hause, als an die Uni zu gehen.

Aber warum die Verhüllung? Kurt brachte das Beispiel eines Busses. Betritt eine perfekte Frau den Wagen, bekomme sie die volle Aufmerksamkeit. Kommt eine nicht so schöne Frau, die dennoch bauchfrei trägt, stehe deren Charakter auch nicht mehr im Vordergrund.

Die Verhüllung sei also das Zeichen, dass nur die inneren Werte der Frau zählten. Ob sie nun dem gängigen Schönheitsideal entspräche oder nicht.

Wie jemand aussieht, ist Schäfer und Arras egal. Beide riefen vehement dazu auf, das Recht – ja: die Pflicht – zur Wahl wahrzunehmen und bei den anstehenden Kommunalwahlen die Kreuzchen zu setzen. Denn dafür hätten schließlich Clara Zetkin und Kolleginnen vor genau einhundert Jahren weltweit gekämpft.

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