Albstadt-Tailfingen

Ein Dreamteam drückt die Schulbank

20.07.2018

von Nicole Leukhardt

Einem Zufall haben Nicolas und Mirjam Kamal zu verdanken, dass sie Schulbegleiterin Nadja Wittmann gefunden haben. Sie geht täglich mit dem Drittklässler in den Unterricht in Tailfingen und unterstützt den gehbehinderten Buben in seinem Alltag.

„Der Moment, als die Schulleiterin uns sagte, dass sie sich freuen würde, wenn Nicolas zu ihnen käme, das war für mich die größte Freude“, erzählt Mirjam Kamal. Denn ihr Sohn Nicolas hat eine sogenannte infantile Cerebralparese, ist gehbehindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Heute besucht er die dritte Klasse der Tailfinger Langendwand-Eyachquell-Schule. Meistens an seiner Seite: Nadja Wittmann, seine Schulbegleiterin.

Ein Dreamteam drückt die Schulbank

© Nicole Leukhardt

Nicolas Kamal und Nadja Wittmann sind in der Schule ein gutes Team: Die Schulbegleiterin hilft dem gehbehinderten Jungen im Alltag.

„Zwar haben Eltern das Recht, auch die Kinder mit einem besonderen Bedarf in einer Regelschule unterrichten zu lassen“, erzählt Franziska Pfister. Sie ist bei der Lebenshilfe Zollernalb für die Integrationshilfe zuständig. „Aber manche Schulen müssen zum Beispiel Rollstuhlfahrer ablehnen, weil die Schulgebäude nicht barrierefrei sind und es an Aufzügen fehlt. „Da hilft den Eltern der gesetzliche Anspruch wenig“, sagt Franziska Pfister. Oft müsse das behinderte Kind alleine essen, weil es den Weg in die Mensa nicht meistern kann, nennt sie ein Beispiel. „In dem Moment ist Inklusion auch nur noch ein theoretisches Konstrukt.“

Die Suche nach einer passenden Schule war auch für Mirjam Kamal die eine Hürde, eine noch viel größere war die nach einem Schulbegleiter für Nicolas. „Ich hatte schon Erfahrung aus der Kindergartenzeit und wusste, wie schwer es ist, jemanden zu finden“, erzählt die Mutter. Aber bis wenige Tage vor Schulbeginn war noch nicht klar, wie Nicolas in der Schule zurecht kommen soll. Bis Nadja Wittmann ins Leben der Kamals kam – durch einen Zufall.

Die beiden Frauen schauen sich an und lachen. „Ich hatte mich vor meinem Urlaub woanders als Schulbegleiterin beworben, ohne zu wissen, dass ums Eck dringend eine gesucht wird“, erinnert sich Nadja Wittmann. „Vier Häuser weiter“, mischt sich Nicolas mit seinem schelmischen Lächeln ins Gespräch der beiden Frauen ein. Die Nachbarinnen hatten sich bis dahin nur flüchtig gekannt. Über eine andere Bewohnerin der Straße erfuhren sie voneinander. „Und es hat sofort gepasst“, freut sich Mirjam Kamal.

Heute ist Nadja Wittmann als Schulbegleiterin für Nicolas bei der Lebenshilfe Zollernalb angestellt. Als eine von vielen. „Der Bedarf wächst“, erzählt Franziska Pfister. Aktuell managt sie 45 Begleitungen auch über die Kreisgrenzen hinaus. „Wir bekommen Anfragen aus Rottweil, Nusplingen oder Bitz“, sagt sie. Viele Kinder hätten seelische Behinderungen. „Autismus ist die häufigste Erkrankung, die eine Schulbegleitung notwendig macht“, sagt Franziska Pfister. Auch für körperbehinderte Kinder sucht sie immer wieder Begleiter. Die Familien könnten sich den Träger dabei selbst aussuchen, erklärt sie das Prozedere.

Doch bis es soweit ist, steht den Eltern viel Papierkram bevor. „Zunächst muss man beim Schulamt Einzelintegration beantragen“, erzählt Mirjam Kamal, die in Sachen Antragsstellung zur Fachfrau geworden ist. Den Bedarf für einen Schulbegleiter müsse ein Gutachter feststellen, beschreibt sie weiter. Gleichzeitig müsse man beim Landratsamt einen Antrag auf Kostenübernahme stellen, bei der Stadt schließlich könne man die Erstattung der Fahrtkosten beantragen. „Bis man sich da zurecht gefunden hat, dauert es ein bisschen“, sagt die Mutter.

Sie fühlte sich in der Vergangenheit oft alleingelassen. „Niemand sagt einem, welche Hilfen man beantragen könnte, man muss sich das meiste selbst zusammensuchen“, sagt sie. Eine Stelle, die Eltern in ihrer Lage an die Hand nimmt und die Möglichkeiten aufzeigt – „das wär's“, sagt Mirjam Kamal. Mit der Tatsache, dass sie alle Anträge Jahr für Jahr erneut stellen muss, habe sie sich dagegen mittlerweile abgefunden. „Ich sage dann immer, mein Sohn habe leider noch immer keine Spontanheilung erlebt“, sagt die Tailfingerin.

Dass sie mit Nadja Wittmann allerdings einen Glücksgriff gemacht haben, da sind sich alle drei einig. „Ich konnte mir die Arbeit mit Kindern gut vorstellen“, erzählt die Schulbegleiterin. Für sie war der Gedanke, ein behindertes Kind im Schulalltag zu begleiten, eine Herzensangelegenheit. Morgens nimmt sie Nicolas in Empfang, wenn er mit dem Taxi zur Schule kommt. „Ich helfe ihm ins Klassenzimmer und ziehe mich während der ersten und zweiten Stunde zurück, es sei denn, Sport steht auf dem Stundenplan“, berichtet sie.

Auch in der Pause lässt sie Nicolas mit seinen Freunden allein. „Ich halte mich im Hintergrund, falls er Hilfe benötigt. Wenn er mit seinem besten Kumpel aber wichtige Dinge bespricht, lass ich die beiden alleine“, sagt sie und lächelt. Im Unterricht schließlich achtet Nadja Wittmann darauf, dass Nicolas gerade sitzt und seinen Stift ordentlich hält. Und sie erlebt eine zweite Grundschulzeit: „Ich sehe heute die andere Seite des Unterrichts und erlebe, wie unterschiedlich die einzelnen Lehrer mit den Kindern arbeiten.“ Nicolas hat kein Lieblingsfach: „Ich mag alle sehr“, sagt der Junge. Seiner Schulbegleiterin liegt der Sachkundeunterricht besonders. „Zusammen sind wir auf alle Fälle hochmotiviert“, sagt sie, knufft Nicolas in die Seite und lacht.

Eine spezielle Ausbildung benötigte Nadja Wittmann nicht. „Jeder kann Schulbegleiter werden“, erklärt Franziska Pfister. Oft seien es junge Leute, die den Bundesfreiwilligendienst oder ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren. „Das ist nicht immer einfach, ein Zwanzigjähriger ist schnell überfordert, wenn sich ein Kind auf den Boden wirft und zwanzig Minuten lang nur um sich schlägt“, schildert die Integrationsfachfrau. Es helfe, wenn man schon selbst Kinder habe und eine gewisse Lebenserfahrung mit sich bringe, meint sie.

Bei der Lebenshilfe Zollernalb sind Schulbegleiter als Anlernkräfte angestellt. „Natürlich wäre es gut, wir könnten auch Erzieher oder Sozialpädagogen mit den Kindern in die Schulen schicken, aber genehmigt bekommen wir eben nur Anlernkräfte“, erklärt Franziska Pfister. „Dass es zwischen Kind und Schulbegleiter gut passt, ist eigentlich ohnehin die Hauptsache“, sagt sie. Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zueinander sei wichtig. „Es hilft nicht, wenn ein Sozialpädagoge mit dem Kind nicht klar kommt und umgekehrt“, findet sie.

„Man muss einfach das richtige Paar finden“, weiß auch Mirjam Kamal. Sie freut sich besonders, dass die Schule und auch die Klassenkameraden von Nicolas so gut mit der Behinderung ihres Sohnes umgehen.

„Er wird zwar immer Hilfe brauchen, auch wenn es nur um Kleinigkeiten geht, wie den Schulranzen von einem zum anderen Klassenzimmer zu bringen“, sagt sie. Aber die Schule und die anderen Kindern würden sich ungeheure Mühe geben, den Drittklässler in ihrer Mitte zu integrieren. „Das Klima ist toll, die anderen nehmen Rücksicht, sie denken alle daran, dass Nicolas nicht bei allem mitmachen kann“, beschreibt Nadja Wittmann den Alltag, den sie mit ihrem Schützling erlebt. „Es geht nur, wenn alle mitziehen“, sagt sie. Dass die Lehrer bei besonderen Unternehmungen und Ausflügen auf die Bedürfnisse von Nicolas eingehen, wissen die beiden Frauen sehr zu schätzen.

Und auf ihre Schulbegleiterin ist die Mutter von Nicolas besonders stolz. „Sie denkt mit, bespricht mit den Lehrern alles Notwendige, schaut hin und ist aufmerksam an seiner Seite“, spricht sie ihrer Nachbarin ein dickes Lob aus.

Wie es weitergeht, wenn Nicolas die Schule wechseln wird, weiß sie noch nicht. „Wir würden Nadja gerne mitnehmen“, sagt Mirjam Kamal. Die lächelt. „Ich hätte nichts dagegen“, sagt sie. Und Nicolas? Er nickt und lächelt sein verschmitztes Lächeln.

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