Hechingen/Balingen

Das Opfer schildert Todesängste

05.03.2018

von Michael Würz

Was geschah im Oktober am Balinger Bahnhof? Ein junger Somalier muss sich seit Mittwoch vor dem Landgericht Hechingen verantworten – er soll eine Jugendliche verletzt und sexuell genötigt haben.

Sichtlich aufgewühlt, aber gefasst nimmt die 17-Jährige im großen Sitzungssaal auf dem Stuhl der Nebenklage Platz. Die Jugendliche möchte, dass der junge Mann, der ihr gegenüber sitzt, bestraft wird. Dafür nimmt sie den ganzen langen Verhandlungstag über seine stechenden Blicke in Kauf. Dafür sagt sie öffentlich aus und schildert detailliert, was aus ihrer Sicht am 13. Oktober 2017 gegen 21 Uhr am Balinger Bahnhof passiert ist.

Das Opfer schildert Todesängste

© Michael Würz

Für den Vorsitzenden Richter ein Held: Peter Seifert, Chef des Balinger Bahnhofs, vor dem Landgerichtsgebäude. Er habe Zivilcourage bewiesen, das sei nicht mehr selbstverständlich.

Der junge Mann, der ihr gegenüber sitzt, hatte 2015 die Flucht aus Somalia ergriffen, die Flucht vor islamistischen Terroristen, gegen die er in seiner Provinz als Kindersoldat gekämpft habe. Er zeigt dem Vorsitzenden Richter Dr. Hannes Breucker Wunden vergangener Verletzungen. „Das war ein Selbstmordattentäter mit einer Bombe.“

Dass er an jenem Freitag im Oktober in Balingen landet, ist dem Zufall geschuldet. Eigentlich, so schildert er am ersten Verhandlungstag, sei Genf sein Ziel gewesen – seiner dort lebenden Brüder wegen. Nachdem er sich in Heidelberg aufgemacht hatte, wo er erst wenige Tage zuvor in der LEA untergekommen war, steigt er in Stuttgart in den falschen Zug, landet zunächst in Hechingen. Bereits dort bekommt er es mit der Polizei zu tun, weil er das Essen nicht bezahlt, das er bestellt.

Was geschah in Balingen?

Es ist kurz nach 21 Uhr, als sie im Polizeirevier in Balingen den Koch des Balinger Bahnhofcafés in der Leitung haben. Die Polizei habe ihm empfohlen, bei Vorfällen am Bahnhof das Revier vor Ort anzurufen, erklärt der Zeuge, als Richter Breucker wissen will, wieso er nicht den Notruf 110 gewählt hat. Der offizielle Weg über das Polizeipräsidium Tuttlingen – er dauere schlicht zu lange. „Kommen Sie schnell“, bittet der Koch die Balinger Polizistin, die er am Telefon hat, um Hilfe. Währenddessen halten Bahnhofschef Peter Seifert und einer seiner Stammgäste den Mann fest, der sich an der Jugendlichen vergangen haben soll. „Sie hat regelrecht hysterisch um Hilfe geschrien.“

Laut Anklage der Staatsanwaltschaft soll das Mädchen den Angeklagten kurz zuvor um eine Zigarette gebeten haben. Die habe sie von ihm nicht bekommen, stattdessen habe der junge Mann ein sexuelles Interesse an der 17-Jährigen entwickelt, wie es in der Anklageschrift heißt. Der Staatsanwaltschaft zufolge läuft der Angeschuldigte ihr dann hinterher, küsst sie auf die Wange, wirft sie auf den Boden und versucht, sie auszuziehen. Er greift ihr zwischen die Beine und an die Brust. Als sie um Hilfe schreit, schlägt er sie. Und drückt laut Anklage ihren Schal auf ihren Mund und ihre Nase, sodass sie zeitweise keine Luft mehr bekommt.

Die Retter vom Bahnhof

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeklagte sein Opfer vergewaltigen wollte. Dazu kommt es an jenem Abend nicht: Ein Stammgast des Bahnhofs wird auf die Schreie des Mädchens aufmerksam. Er ruft „Peter, Peter“. Seifert eilt herbei, der Koch alarmiert die Polizei. Die aber kommt trotz der direkten Leitung ins Revier erst nach geraumer Zeit – erst, nachdem der Koch ein zweites Mal angerufen hatte. Der Personalmangel. Doch Fluchtversuche unternimmt der junge Mann, den sie festhalten, ohnehin nicht. „Er hat nicht randaliert oder so“, schildern Seifert und sein Angestellter am Mittwoch. Stattdessen soll er immer wieder betont haben, dass es kein Problem gebe. Und das Opfer, das er laut Staatsanwaltschaft nicht kannte, als seine Freundin ausgegeben haben.

Die 17-Jährige trat am Mittwoch in der öffentlichen Verhandlung in den Zeugenstand. „Ich dachte, er will mich umbringen“, sagte sie. „Ich habe geglaubt, das war's jetzt.“ Dass das Gericht die Schilderungen für glaubhaft hält, darauf könnte das Lob des Vorsitzenden Richters hindeuten, das er Seifert und dessem Angestellten aussprach: „Sie haben Zivilcourage bewiesen. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich, deshalb möchte ich das ausdrücklich sagen.“

Gleichwohl klopften Gericht und Verteidiger den ganzen Tag über kritisch die Glaubwürdigkeit der 17-Jährigen ab. Wieso etwa ist sie draußen geblieben und nicht in den Bahnhof, als er ihr folgte? Wie glaubhaft verhielt sich die Nebenklägerin in den Vernehmungen mit den Ermittlern des Kriminaldauerdienstes, die am ersten Verhandlungstag ebenfalls aussagten? Kritisch hakte Richter Breucker auch nach, weil der Schilderung der jungen Frau zufolge zwei Männer vorbeigekommen und einfach weitergegangen sein sollen – bevor Seifert und seine Mannen einschritten. Und auch, weil es sich laut Peter Seifert beim Tatort um eine sehr gut ausgeleuchtete Stelle auf dem Gelände des Bahnhofs handele.

Der Angeklagte, der wegen einer psychischen Erkrankung zwischenzeitlich aus dem Gefängnis in eine Klinik in Bad Schussenried verlegt worden ist, bestreitet die Tat vehement. Ja, es sei um eine Zigarette gegangen, ja, es habe einen Schubser gegeben. Mit der sexuellen Nötigung aber habe er nichts zu tun. Als am Mittwoch der Bahnhofsstammgast aussagt, der bezeugen soll, dass der Angeklagte auf dem Mädchen saß oder lag, ergreift der Angeklagte ein einziges Mal das Wort, spricht den Zeugen an und fragt, ob dieser das, was er sagt, wirklich gesehen haben will.

Gegen den Mann sprechen indes auch DNA-Spuren, die LKA-Ermittler an der jungen Frau nachweisen konnten. Genau wie die Aussagen der Kommissare, die die Aussage des Mädchens allesamt als glaubhaft werten. Der Prozess wird am Dienstag, 13. März fortgesetzt, mit einem psychiatrischen Gutachter und weiteren Polizeibeamten. Dann könnte bereits das Urteil fallen.

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