Balingen

Peter Seifert verlässt empört den Saal

01.01.2018

von Lydia Wania-Dreher und Nicole Leukhardt

Der Hauptbahnhof bleibt Reizthema Nummer eins in Balingen: Am Dienstagabend ging es in der Haushaltssitzung gleich zweimal kontrovers zur Sache.

Peter Seifert verlässt empört den Saal

© Lydia Wania-Dreher

Das Verhalten der Menschen im Innen- und Außenbereich des Bahnhofs war genauso Thema in der Gemeinderatssitzung wie der geplante Querbau, der den Platz zukünftig begrenzen soll.

Es ist ein Thema, das Peter Seifert seit längerem beschäftigt: Schlägereien, Drogendeals und ein Übergriff am Balinger Bahnhof. Am Dienstagabend sprach der Grünen-Stadtrat und Bahnhofsbesitzer in der öffentlichen Gemeinderatssitzung unter dem Tagesordnungspunkt Verschiedenes die Situation und die Reaktionen auf seinen Leserbrief in einer Stellungnahme an.

„Ich war ehrlich überrascht, wie viele Mitbürger aus Balingen oder dem ganzen Zollernalbkreis mich in dieser Analyse bestätigt haben“, sagte Seifert. Die Lösung bestehe nicht darin, zu verleugnen, dass man Probleme habe, sondern darin, sie zu erkennen und daran zu arbeiten, so der Stadtrat. „Unser Hauptproblem besteht darin, dass wir uns davon verabschiedet haben, als Gesellschaft im gemeinsamen Konsens Werte zu vermitteln und einzufordern, Regeln für alle gleich zu definieren und umzusetzen“, erklärte er. Dies sei unabhängig davon, ob es ich um einen Einheimischen oder einen Migranten handle. Balingen, aber auch die ganze Republik, sei keine heile Welt. „Ich lebe damit, dass ich für diese offenen Worte gemaßregelt werde“, so Seifert.

Im Laufe seiner minutenlangen Ausführungen, wies ihn Oberbürgermeister Helmut Reitemann darauf hin, zum Schluss zu kommen. Nachdem einige Zeit vergangen war, beendete der Oberbürgermeister Seiferts Stellungnahme. Sehr zum Ärger des Bahnhofsbesitzers, der daraufhin aufstand und empört den Saal verließ.

SPD-Stadtrat Alexander Maute hinterfragte, in welcher Funktion Seifert spreche. Für private Angelegenheiten gebe es im Gremium kein Rederecht. „Herr Seifert war berechtigt hier Stellung zu nehmen“, sagte hingegen Freie-Wähler-Stadtrat Werner Jessen. Seiner Meinung nach hätte man ihn komplett ausreden lassen können. Dann hätten die Räte auch erfahren, dass Peter Seifert am Ende seiner Stellungnahme einen Antrag stellen wollte. Er forderte einen moderierten, öffentlichen Dialog zum Beispiel in Form einer Podiumsdiskussion. So dass ernsthaft der Versuch unternommen werde, den Balinger Bürgern den Glauben an die Gestaltungsfähigkeit der Politik, die Wahrhaftigkeit und die Gleichbehandlung zurück zu geben, heißt es in der kompletten Stellungnahme, die Peter Seifert der Presse zukommen ließ.

„Ich habe ihn zu Wort kommen lassen“, rechtfertigte Helmut Reitemann seine Entscheidung, Peter Seifert zu unterbrechen. Er habe lange genug Zeit gehabt, so der Oberbürgermeister.

Zuvor war der Bahnhof in der Sitzung schon einmal Thema: bei der Verabschiedung des Haushalts. Fast alle Fraktionen hatten sich in ihren Haushaltsreden dem Bahnhofsvorplatz und dessen geplanter Neugestaltung angenommen. „Ein Bild wirkt noch besser mit dem passenden Rahmen“, sprach sich Klaus Hahn, Fraktionschef der CDU, für den angedachten Querbau aus. Seine Ratskollegen zeigten sich von dem Bauvorhaben weniger überzeugt. „Wir gehören zu denen, die die Verschönerung des Bahnhofsvorplatzes nicht zu erkennen vermögen“, sagte SPD-Fraktionsvorsitzender Ulrich Teufel. „Das Ergebnis des Wettbewerbs steht in Balingen stark in der Kritik“ berichtete auch Dr. Dietmar Foth von der FDP von kritischen Stimmen Balinger Bürger.

Seiferts Stellungnahme im Wortlaut

„Sehr geehrter Herr Reitemann,

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen des Gemeinderates,

Meine Damen und Herren,

Sie wissen, dass ich aus meinem Herz keine Mördergrube mache und ich mich von Zeit zu Zeit durch Leserbriefe in der Öffentlichkeit zu Wort melde. So auch am 13.12. des vergangenen Jahres nach unerfreulichen Erlebnissen, die Ihnen sattsam bekannt sein dürften.

Das mein Brief, der nur an die örtlichen Lokalredaktionen gerichtet war, derartige Wellen schlagen würde und durch Artikel in der Welt, Focus, der Bildzeitung, dem Südwestkurier, dem Südwestrundfunk Widerhall fand und immer noch findet, spricht für die Brisanz und die Aktualität dessen, was ich angesprochen habe. Es hat seine Gründe, wenn sich eine Redakteurin des Zeit-Magazins drei Tage in Balingen aufhält, um sich ein Bild von der Stadt zu machen, aus der der Leserbrief stammt. Sie hat dabei als Bewohnerin unserer Hauptstadt ein durchaus positives Bild der Balinger gewinnen können.

Es gab linke Leser, die mir empfohlen haben in die AFD einzutreten und rechte, die ihre Schadenfreude zum Ausdruck gebracht haben, dass da jetzt ein grüner Mandatsträger das auslöffeln darf, was im die eigene Partei eingebrockt hat.

Treffend hat es vielleicht ein Kommentator auf einer Internetseite auf den Punkt gebracht: „Wer von links und rechts gedrängt wird, hat die Mitte gefunden.“

Wenn ich die geschmacklosen, ehrverletzenden, dumpfen Kommentare abziehe bleiben aber sehr viele übrig, die mich in meiner Bestandsaufnahme der aktuellen Situation (und mehr war der Leserbrief eigentlich auch nicht) bestätigen. Einer Situation, die geprägt ist von einem krassen Missverhältnis der publizierten Wirklichkeit, zur realen Wirklichkeit. Ich war ehrlich überrascht, wie viele Mitbürger aus Balingen, oder dem ganzen Zollernalbkreis mich in dieser Analyse bestätigt haben.

Und die Lösung besteht nicht darin zu verleugnen, dass wir Probleme haben, sondern darin es zu erkennen und daran zu arbeiten.

In vielen intensiven Gesprächen hat sich im Nachgang zu meinem Leserbrief und den dazu erschienenen Artikeln eines ganz deutlich herauskristallisiert.

Unser Hauptproblem besteht darin, dass wir uns davon verabschiedet haben als Gesellschaft im gemeinsamen Konsens Werte zu vermitteln und einzufordern, Regeln für alle gleich zu definieren und umzusetzen.

Während früher ein ganzes Dorf, ein ganzer Stadtteil erzieherisch gewirkt haben, interessiert es in dieser individualisierten Gesellschaft den einzelnen anscheinend nicht mehr, ob Jemand etwas richtig, oder falsch macht.

Und dies ganz unabhängig davon, ob es sich um einen Einheimischen, oder einen Migranten handelt.

Es gibt nicht Wenige, die den Balinger Mitbürger Adelbert Jauch, der seit ein paar Jahren mit seinem Bollerwagen durch die Stadt läuft und den Müll seiner Mitmenschen aufsammelt, für einen Spinner halten, anstatt sich die Frage zu stellen, wer wirklich die Verrückten sind. Diejenigen nämlich, die in ihrem eigenen Egoismus ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen, oder ihre Umwelt glauben, Sie seien alleine auf diesem Planeten.

In dem Wartesaal des Bahnhofs, der seit 4 Jahren auf meine Kosten beheizt wird, kann sich von frühmorgens bis spätabends jeder aufhalten, einen der mittlerweile mehr als 50 Sitzplätze nutzen, an den Tischen Zeitung lesen, seine Hausaufgaben machen, oder etwas essen oder trinken.

Bereits eine halbe Stunde nach Saalöffnung kann man aber durch die Reihen gehen, Stühle wieder an die Tische zurückstellen, die den Reisenden den Weg versperren würden, oder Müll auflesen, der einfach achtsam auf den Tischen und dem Boden verteilt wird.

Wo ist die Erziehung geblieben, in der vermittelt wurde, dass man einen Ort so zu verlassen hat, wie man ihn aufzufinden wünscht?

Wo sind die Sitznachbarn, die sich einmischen, darauf hinweisen, dass man seinen Müll nicht überall hinwerfen kann, oder ein Telefongespräch in einer zivilisierten Lautstärke zu führen hat, anstatt den ganzen Saal zu beschallen. Ausgestorben?

Wenn ich aus den Presseartikeln zu der letzten Verwaltungsausschusssitzung den Tenor lesen kann, dass die Probleme mit Randale und Drogenhandel am Bahnhof zunächst einmal meine Probleme sind, dann kann ich das als Bestätigung meiner These ansehen.

Ist es mein Problem, dass Anfang Oktober eine 17 Jährige junge Frau von einem 26 jährigen jungen Mann direkt an der Nordwand des Gebäudes angefallen wurde?

Ist es mein Problem, dass am Samstag des Weihnachtsmarktes eine so üble Schlägerei auf dem Bahngleis 1 stattgefunden hat, dass die stationäre Einweisung der Kontrahenten unabdingbar war?

Ist es mein Problem, dass wir eine junge 15 jährige Schülerin, die in Begleitung mehrerer männlicher Jugendlicher auf dem Bahngelände um die Weihnachtszeit so zugekifft angetroffen haben, dass wir den Notarzt rufen mussten, der eine sofortige stationäre Einweisung vornahm? Die junge Dame wurde übrigens später noch mit dem Hubschrauber ins Klinikum Tübingen verlegt, da der Zustand besorgniserregend war und das Ableben drohte.

Wenn Sie mit sehenden Augen durch die Stadt gehen, werden Sie erkennen, dass die heile Welt, die sie uns vorgaukeln keine heile Welt ist. Und dies ist kein auf Balingen beschränkter Zustand, dies betrifft die ganze Republik.

Ich lebe damit, dass ich für diese offenen Worte gemaßregelt werde.

So gibt es nicht umsonst den treffenden Ausspruch von Kurt Tucholski: „In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.“

Hierzu passen dann auch die Worte von George Orwell: „Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.

Sehr geehrter Herr Reitemann, geschätzte Kolleginnen und Kollegen,

die vielen Reaktionen von besorgten Mitbürgern auf die Vorkommnisse am Bahnhof, meinen Leserbrief dazu, und nicht zuletzt die Diskussion im Verwaltungsausschuss veranlassen mich den Antrag zu stellen, dass in einem moderierten, öffentlichen Dialog zum Beispiel in Form einer Podiumsdiskussion der ernsthafte Versuch unternommen wird, den Balinger Bürgern den Glauben an die Gestaltungsfähigkeit der Politik, die Wahrhaftigkeit und die Gleichbehandlung zurück zu geben.

Einen erfahrenen Journalist konnte ich bereits als Moderator gewinnen. Ich fordere Sie Herr Reitemann, als Vertreter der Verwaltung dazu auf, daran teilzunehmen und dies in städtischen Räumen zeitnah zu ermöglichen. Und ich fordere Vertreter der Schulen, der Sozialarbeit, der Kirchen, der Polizei ebenfalls auf, in einen offenen Diskurs darüber einzutreten, ob wir es schaffen die Menschen dafür zu begeistern die Gestaltung der Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen, anstatt zu resignieren und den Status Quo als unumkehrbar anzusehen. Einem Status, mit dem die Menschen offensichtlich nicht zufrieden sind.“

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