Meßstetten

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

18.11.2015

von Olga Haug und Michael Würz

5400 Einwohner, 3400 Flüchtlinge: Die Erstaufnahme in Meßstetten gibt es seit einem Jahr. Ein Alltag voller gemischter Gefühle.

Essensreste liegen auf den Stufen, alte Matratzen stehen im Eck, beim Betreten des alten Wohnblocks auf dem ehemaligen Meßstetter Kasernenareal sticht ein unangenehmer Geruch in die Nase. Im ersten Stock wohnt die 29-jährige Ruayda Amin seit Anfang Oktober in einem etwa 20 Quadratmeter großen Raum mit ihren drei Kindern, zwei Brüdern und einem Cousin. Die junge Frau ist mit ihren Kindern aus Syrien geflohen. „Wir sind hier in Sicherheit“, sagt Ruayda. Nun heißt es Warten.

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

Ankunft der Flüchtlinge in Meßstetten. Foto: Hartmut Volk

Acht Betten stehen in dem kleinen, kahlen Raum. Ihr jüngerer Bruder schaut mit ernstem, traurigem Blick immer wieder auf den Boden. Ihr Ehemann sei in Stuttgart, erzählt sie. Bereits vor sechs Monaten war er nach Deutschland gekommen, wollte die Familie nachholen. Doch als es für Ruayda und ihre Kinder in Syrien zu gefährlich wurde, entschloss sie sich, ebenfalls den beschwerlichen Fluchtweg auf sich zu nehmen. Nun ist sie in Meßstetten.

Heute vor einem Jahr wurde die Landeserstaufnahme (Lea) bei Meßstetten offiziell eröffnet. 3400 Flüchtlinge leben derzeit auf dem Gelände der ehemaligen Zollernalb-Kaserne, geplant war es für 1000. Für die meisten von ihnen ist der Ort auf der Alb nur eine Zwischenstation für sechs bis acht Wochen. Doch der Alltag in Meßstetten hat sich verändert.

Bruno Lachmann steht vor seinem Haus mit der großen grünen Nummer 15 an der Wand. Täglich kommen hier Flüchtlinge vorbei. Der 68-Jährige hat keine Probleme damit, Berührungsängste kennt er nicht. „Meine Frau und ich helfen regelmäßig im Begegnungszentrum der Lea aus“, sagt Lachmann. Aber im Ort sei es nicht mehr wie früher. „Alles andere wäre gelogen.“ Dass vor allem ältere Bürger Angst vor den vielen Fremden haben, verstehe er. Über Schmutz und Lärmbelästigung könne er sich aber nicht beschweren. Zwei Häuser weiter ist man anderer Meinung: „Anfangs war es sehr schlimm“, sagt Silvana Hilligardt: Müll, Lärm, Pöbeleien. „Ein paar haben nachts mein Auto demoliert“, wirft ihr 18-jähriger Sohn ein. Es habe sich gebessert, abends traue sich die 55-Jährige dennoch nicht mehr vors Haus.

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

Bruno Lachmann, Anwohner: „Wir sind selbst in der Lea als Helfer aktiv. Probleme mit Schmutz und Lärm im Ort sehe ich keine.“ Foto: Olga Haug

Etwa drei Kilometer sind es vom Lea-Gelände in die Ortsmitte, der Weg, den die Flüchtlinge nehmen, wird oft abwertend „Asylantenautobahn“ genannt. Viele zieht es zum Discounter Lidl – nicht zuletzt wegen der angrenzenden Wiese auf der (männliche) Flüchtlinge gerne bei schönem Wetter sitzen, essen und trinken. Vielen Meßstettern ist das ein Dorn im Auge. Die Stadt hat zusätzliche Mülleimer aufgestellt. Abends kommen nun Flüchtlinge aus der Lea und räumen zusammen mit einem Verantwortlichen auf.

Der Lidl ist an diesem Tag nicht überfüllt, aufgerissene Packungen finden sich kaum. Ein Wachmann begleitet die Reporter auf Schritt und Tritt. Tage zuvor hatte unsere Zeitung das Unternehmen um eine Stellungnahme gebeten: Wie sehen die Zahlen in puncto Diebstahl, Verlust oder Umsatzsteigerung aus seit Eröffnung der Lea? Auskunft gab es keine. Der Filialleiter darf nichts sagen, Interviews und Aufnahmen im Laden sind untersagt. Die Behauptung, Lidl-Mitarbeiter seien angehalten, bei Diebstählen wegzuschauen, weist die Lidl-Pressestelle aber zurück: „Jeder festgestellte Diebstahl wird durch unsere Mitarbeiter zur Anzeige gebracht.“ An der Kasse stehen drei junge Asylbewerber in der Schlange. Auf dem Band liegen jede Menge Lebensmittel: Toastbrot, Torte, Dosenfisch, Mais, Energy-Drinks. Das Essen in der Lea schmecke ihnen nicht, berichten sie draußen. Außerdem genügen die Portionen nicht. „Ich brauche kein syrisches Essen. Ich brauche einfach Essen“, sagt einer.

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

Auf der Wiese neben dem Supermarkt sitzen Flüchtlinge oft im Freien – vielen Meßstettern gefällt das nicht. Foto: Felix Kästle (dpa)

In Meßstetten selbst wohnen rund 5400 Menschen. 50 bis 100 Neuzugänge kommen täglich in der Lea an, zu der auch eine Außenstelle in Sigmaringen (1000 Bewohner) gehört. Die Lea soll Ende 2016 geschlossen werden – das hat die Landesregierung versprochen.

Hinweis der Redaktion: Das Interview wurde vor der Auseinandersetzung bei der Essensausgabe am vergangenen Freitag aufgezeichnet. 

In der Lea-Kantine gibt es heute Nudeln mit Käsesoße, ein Brötchen und eine Orange. Es laufen auffällig viele Bewohner mit Brötchen in den Händen aus der Kantine. Kinder beißen ins Fruchtfleisch ihrer Orangen. Aber das Essen auf dem Tablett lassen viele unberührt. Nach dem kurzen Mittagessen, bei dem weder Ruayda Amin noch ihre Kinder tatsächlich etwas gegessen haben, steht die junge Mutter in der langen Schlange zum Kiosk. Dort gibt sie ihr meistes Geld aus – für Essen. Für „leckeres Essen“, sagt sie und lächelt. Pistazien, Brot, Pommes, Fleisch oder Süßigkeiten für die Kinder besorgt sie regelmäßig. 411 Euro bekommt Ruayda für sich und ihre drei Kinder monatlich. Ihr Geld gibt sie nicht in der Stadt aus. Sie hat das Lea-Gelände noch nie verlassen. In der Lea habe sie auch Angst, weil es so viele Männer gebe, sagt die junge Frau. Ihr Handy sei der wichtigste Draht zu ihrem Mann und Verwandten in Syrien.

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

Das Essen in der Kantine schmeckt vielen Bewohnern nicht. Ruayda Amin (links) und ihre Kinder essen meist nur Obst und das Brötchen. Foto: Olga Haug

Leichenteile im Müll, „leergeklaute“ Läden, sexuelle Übergriffe: Die Gerüchteküche rund um die Lea brodelt stetig. Die meisten Gerüchte entbehren jeder Grundlage. Real sind aber die Massenschlägereien, die es bereits mehrfach gab – zuletzt am Freitag, als ein Streit an der Essensausgabe eskalierte und einen Großeinsatz auslöste. Landrat Günther-Martin Pauli (CDU) hält die massive Überbelegung für „nicht mehr hinnehmbar“. Das alles beeinflusst die Stimmung im Ort.

Anschy ist ein 16-jähriges Mädchen, sie wohnt in der Nähe des Weges, den die Lea-Bewohner in die Stadt benutzen. Ihre Mutter will nicht, dass sie Kontakt zu Flüchtlingen hat. Abends geht das blonde Mädchen nicht mehr alleine raus. Passiert sei ihr persönlich noch nie etwas, sagt Anschy – aber sie habe schon viel gehört. Anfangs dachte sie, es seien nur Gerüchte. Aber langsam glaube sie, dass es stimme – weil so viele darüber sprechen. Auf Facebook wird gerade behauptet, dass ein Polizist aus der Wache auf dem Lea-Gelände von Flüchtlingen entführt worden ist.

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

Angelika Krimmel, Verkäuferin: „Das Reizgas wird bei uns im Laden nicht nur von Meßstettern gekauft – auch die Sicherheitsdienste kaufen bei uns ein. Foto: Olga Haug

Polizist René Dietrich kann darüber nur noch ironisch lachen. Sein Kollege liege nur krank im Bett, sagt er. Stimmt es, dass das Reizgas im örtlichen Army Store ausverkauft ist, seit es die Lea gibt? Verkäuferin Angelika Krimmel kann die Frage nicht mehr hören. „Das Spray kaufen nicht nur Meßstetter Bürger, sondern auch Securityangestellte“, sagt die 60-Jährige. Auch Flüchtlinge kaufen im Laden ein – Flip Flops waren im Sommer beliebt. Diebstähle gab es ihres Wissens keine. Eine Sache ist ihr aber aufgefallen: Auf dem Gehweg wichen die Flüchtlinge oft nicht aus. „Selbst bei älteren Damen mit Gehstock gehen die Männer nicht aus dem Weg.“

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

René Dietrich, Polizist in der Lea-Wache: „Wenn mein Kollege krank ist, wird auf Facebook gestreut, er sei entführt worden – von Flüchtlingen.“

Die Hilfsbereitschaft im Ort ist ungebrochen. Rund 140 Freiwillige sind täglich rund um die Lea im Einsatz. Vor allem in der Kleiderkammer muss angepackt werden, Unmengen an Kleiderspenden gingen ein. Auch wenn es manchmal stressig wird: Die Ehrenamtlichen könnten die Situation gut meistern, sagen Helfer.

Flüchtlinge in Meßstetten: „Es ist nicht mehr wie früher“

Gerhard Bühler, Schreinermeister: „Angst habe ich nicht. Ich würde Flüchtlinge bei mir im Betrieb einstellen – wenn sie Deutsch können.“ Foto: Olga Haug

Die Tür zur Schreinerwerkstatt von Gerhard Bühler steht offen, das Geräusch einer Säge ist im Nebenraum hörbar. „Flüchtlinge kommen oft rein – interessehalber“, sagt Bühler, der damit kein Problem hat. Viele lassen sich mit seinen Holzfiguren am Eingang fotografieren. Angst vor Diebstahl habe er nicht. Natürlich sei die Lea eine Belastung. Es seien eben viele Flüchtlinge für den Ort. Dass die Lea tatsächlich Ende 2016 schließt, glaube er nicht – genauso wenig, wie er all die Gerüchte glaube. Er könne sich gut vorstellen, Flüchtlinge bei sich einzustellen. Dafür müsse aber ein Kriterium erfüllt sein: Der Angestellte muss Deutsch sprechen.

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Ausstattung in der Kleiderkammer: Ruayda Amins fünfjähriger Sohn bekommt heute unter anderem gebrauchte Turnschuhe. Foto: Olga Haug

Ruayda Amin ist davon weit entfernt, sie ist immer noch dabei, sich in der Lea zurechtzufinden. Heute gibt es für die Neuankömmlinge einen Satz Kleidung: Ein Erwachsener bekommt etwa eine Hose, zwei Pullis, drei Paar Socken, drei Unterhosen, ein paar Schuhe und eine Jacke. Für die Kinder gibt es jeweils etwas mehr. Doch Ruaydas Sohn interessiert die Kleidung nur wenig. Ein Kuscheltier ist alles, was er will. 

 

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