Albstadt/Hechingen

Freispruch trotz tödlicher Messerstiche

16.07.2015

von Olga Haug

Am Donnerstag fiel das Urteil gegen den Albstädter, der in der Silvesternacht seinen Bruder nach einem handgreiflichen Streit erstochen hat. Aufgrund zu dünner Beweislage wurde der 52-Jährige freigesprochen.

„Wir entscheiden, ob es eine beweisbare Schuld gibt“, erläuterte Richter Herbert Anderer das Urteil gegen den 52-Jährigen Albstädter, der seinem Bruder in der Silvesternacht tödliche Messerstiche versetzte. Und diese Schuld konnte das Gericht dem Angeklagten nicht nachweisen. Ferner könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um Notwehr handelte.

Jeder Zweifel müsse zu Gunsten des Angeklagten ausfallen, erläuterte Anderer weiter. So kam die erste Schwurgerichtskammer zu folgendem Urteil: Freispruch. Die Staatsanwaltschaft hatte auf fünf Jahre Freiheitsstrafe plädiert. Dem Gesichtsausdruck des Angeklagten zufolge, konnte er es gestern selbst kaum glauben. Hatte er doch in der Verhandlung am Tag zuvor gesagt, dass es keine Strafe gäbe, die seiner Tat gerecht werde. Dass der Prozess mit einem Freispruch enden würde, daran habe der Richter keinesfalls von Beginn an gedacht. Trotz mühseliger Kleinarbeit blieben für eine Verurteilung aber zu viele Fragen offen.

Richter Anderer gebrauchte in seiner Erläuterung die Metapher eines Bildes, das während der Verhandlung gemalt werden müsse. Am Ende blieben, zu seinem eigenen Erstaunen, zu viele schwarze Flecken. Was das Gericht aber als erwiesen ansieht, ist der Tatort. Im Gegensatz zu der Aussage des Angeklagten, der behauptet, das ganze Szenario habe sich im Wohnzimmer abgespielt, ergibt die forensische Untersuchung, dass der 52-Jährige seinem Bruder im Flur beim Treppenabgang die Messerstiche zugefügt hat.

Die Frage jedoch, warum der Angeklagte seinem Bruder mit den beiden Messern gefolgt war, bleibt offen. So gäbe es laut Anderer zwei Varianten. Der Angeklagte könne aus Rache hinterher gegangen sein, was eindeutig zu seinen Lasten gewertet werden müsste. Den Messerstichen ging eine handgreifliche Auseinandersetzung im Wohnzimmer voraus. Der Getötete soll dem Angeklagten am Boden liegend bis zu 30 Mal ins Gesicht geschlagen haben.

Die andere Variante: Der Angeklagte geht seinem Bruder hinterher, um sicherzustellen, dass er seine Wohnung verlässt. Immerhin, so erklärte es der Richter, habe der getötete Bruder Hausfriedensbruch begangen. Laut Zeugenaussagen habe der Angeklagte schon vor dem Schreckensszenario geäußert, dass er seinen Bruder nicht in der Wohnung haben wolle. Folglich sei es sein gutes Recht gewesen, so Anderer, dem Bruder hinterher zu gehen, hatte dieser den Angeklagten zuvor doch im Wohnzimmer stark verprügelt.

Die nächste ungeklärte Frage: Wurde der tödliche der vier Stiche durch den Rücken oder die Brust ausgeübt? Das gerichtsmedizinische Gutachten konnte dies nicht eindeutig klären. Beides sei möglich. Die Variante durch die Brust lässt die Annahme einer Notwehr zu. Immerhin könne auch nicht eindeutig geklärt werden, was unmittelbar vor den Stichen passiert war. Offensichtlich sei, dass der Getötete nicht die Flucht ergriffen habe. Zudem weisen seine Hände keine Abwehrverletzungen auf, wie sie bei durch Messerstiche verletzten Personen üblich seien.

So könne davon ausgegangen werden, dass es hier erneut zu einer Auseinandersetzung gekommen war – körperlich oder verbal. Getreu der psychologischen Charakterisierung des Getöteten, die ihm instabile und schizoide Züge zuspricht, könne angenommen werden, dass der Getötete seinen Bruder zusätzlich gereizt oder ihn gar erneut körperlich angegriffen habe. Der Angeklagte habe noch in der Tatnacht davon geredet, um sein Leben gefürchtet zu haben. An Einzelheiten könne er sich aber nicht erinnern. An der Amnesie ließ der Richter keinen Zweifel. Hierfür sprechen der Konsum von Alkohol, synthetischen Drogen, die zahlreichen Schläge auf den Kopf sowie der psychische Verdrängungsmechanismus.

„So geht Rechtsstrafe“, sagte Richter Anderer, erneut auf den Zweifelssatz verweisend. Ob das Urteil dem Freigesprochenen helfe, das wisse Anderer nicht, denn eine Einweisung in eine Entziehungsanstalt gehe mit dem Freispruch nicht einher. Darum müsse sich der 52-Jährige selbst kümmern. Anderer riet ihm abschließend, „gescheit“ unterzukommen und auf die Unterstützung seiner „phänomenalen“ Familie zu setzen. Denn ohne Hilfe könne er es nicht schaffen, seine Sucht zu bekämpfen. Und die moralische Schuld bleibe zweifelsohne.

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