Nusplingen

Als hätte die Erde gebebt

31.01.2015

Wer das Haus von Familie Decker betritt, spürt Behaglichkeit. An der Garderobe hängen Häkelmützen und Jacken. Kinderbilder zieren die Wände. Doch das Haus ist leer: evakuiert wegen des Hangrutsches.

Als hätte die Erde gebebt

© Katja Weiger

Zutritt verboten: In den vergangenen Wochen durfte niemand mehr das Wohnzimmer betreten. Leni hat zur Sicherheit ein Schild gemalt. Unser Foto ist jedoch im Esszimmer entstanden.

Die Hartsteige. Ein idyllisches Fleckchen Erde, wo man Kinder unbekümmert vor dem Haus spielen lässt und Nachbars Gänse schnattern. Von hier genießt man einen herrlichen Blick über das Tal und die dichten Wälder rund um Nusplingen. Im Moment ziehen allerdings die Vermessungsteams die Aufmerksamkeit auf sich. Diese haben den Hang unter der Hartsteige im Auge.

Auch drinnen ist alles anders als sonst. Wer das liebevoll eingerichtete Heim der Deckers kennt, findet in den leeren Räumen nichts mehr von der fröhlichen Betriebsamkeit seiner Bewohner. Niemand blättert in einem Bilderbuch, keiner spielt Playmobil oder schaut sich auf dem Sofa eine Zeichentrickserie im Fernsehen an. Am Kühlschrank hängt der Ferienplan, und der große Familien-Esstisch ist noch da, aber ohne Stühle. Eine Leiter zeugt davon, dass hier vor kurzem noch gewerkelt wurde – am Auszugstag.

Denn der Wohnstock ist weitgehend leer geräumt. Deutlich sind tiefe, treppenartige Risse zu erkennen, die sich quer über die Wände des Wohnzimmers ziehen. Sockelleisten klaffen ab, der Boden neigt sich, Simse brechen heraus. Es sieht aus wie nach einem schweren Erdbeben. Neben dem Kamin liegt ein selbstgemaltes Schild: „Zutritt verboten. Baupolizeilich gesperrt! Vielen Dank!“

Für die Familie – Papa, Mama, Leni (9) und Hannes (6) – hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Seit ein paar Tagen wohnen die Vier in einer Übergangswohnung, noch etwas fremd, aber sehr schön und vor allem groß genug für alle. Leni hat sogar eine glitzernde Diskokugel bekommen. Und Hannes, der in der Hartsteige sein Zimmer nicht mehr nutzen durfte, hat wieder einen Raum für sich allein, mit schicken blau-grünen Streifen an der Wand. Zuerst, so erzählen die Deckers, konnte sich niemand vorstellen, dass es tatsächlich einmal so weit kommen würde – obwohl sie ihr Wohnzimmer schon einige Wochen hatten nicht mehr betreten dürfen.

Angefangen hatte alles mit einem Spalt in der Terrassentür, der sich nicht mehr schließen ließ. Eines Tags kullerten Hannes' Murmeln beim Spielen im Wohnzimmer von einer Zimmerseite zur anderen – auf einer vermeintlichen Ebene. Und plötzlich gab das Haus alarmierende Geräusche von sich. Es knackte und rumorte furchteinflößend, oft mitten in der Nacht. Keine leichte Situation, vor allem für die beiden Kinder: „Es ist schwierig, damit umzugehen, wenn der Kleine morgens sagt: ,Papa, hinter meinem Bettchen hat es wieder geknackst…'“ Vor allem eines hat die Deckers beunruhigt: Die Probleme kamen quasi von einem Tag auf den anderen.

Dass der Umzug notwendig war, bezweifelt bei Familie Decker niemand. Doch aus dem eigenen Haus auszuziehen, bedeutet für sie weit mehr als die Sorge, wie wohl alles werden wird: „So ein Auszug hat eine emotionale Komponente“, das steht für die Deckers fest. Ein Eigenheim ist viel kostbarer als das Geld, das man investiert hat. Auch wenn das allein schon genug wäre. Man bringt in ein Haus viel von sich selbst ein, sagt die Familie: Zeit fürs Bauen, Zeit fürs Aussuchen, Zeit fürs Einrichten – damit es ein Zuhause wird, in dem zum Beispiel der Nachwuchs aufwachsen kann. In einem Haus, beschreibt das Ehepaar Decker, steckt viel von einem selbst: Herzblut, Idealismus, Kraft, die Freude daran, etwas selbst zu „schaffen“. Die Hartsteige zu verlassen, ist allen dementsprechend nicht leicht gefallen. Jetzt will die Familie etwas zur Ruhe kommen. Ein weiteres Haus musste ebenfalls evakuiert werden – das Schicksal der Deckers steht exemplarisch für alle Betroffenen.

Was alle jedoch überwältigt, ist die immense Solidarität, die sie in den vergangenen Wochen in Nusplingen und darüber hinaus erfahren haben: „Uns hat es sehr berührt zu sehen, wer alles an uns denkt.“ Beim Umzug haben Familie und Freunde geholfen. Ein dickes Sonderlob bekommt die Gemeinde Nusplingen: „Alle haben unbürokratisch und schnell reagiert – phänomenal!“ Beispielsweise bekamen die vier Deckers von der Verwaltung um Bürgermeister Alfons Kühlwein sofort eine Liste mit freien Wohnungen im Ort. Bauhofmitarbeiter und Feuerwehrleute kamen vorbei, fragten, was zu tun sei. Die Vermieterin brachte den fleißigen Umzugshelfern Käsekuchen und Hefeschneckle zur Stärkung: „Wir haben gespürt, dass wir in Nusplingen nicht nur wohnen, sondern wirklich zu Hause sind.“

Fotostrecke
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